In der Seemannssprache bedeutet „over-the-top“ eine Prüfung, die neuen Matrosen gestellt wurde. Dabei musste der Matrose über den höchsten Schiffsmast klettern. Wer dies geschafft hatte, gehörte dazu.
Der Begriff Over-the-top – oder kurz OTT – ist in der Telekommunikationsbranche ein gängiger Fachbegriff. Wer zu Gast auf Fachkonferenzen oder für ein entsprechendes Unternehmen arbeitet, kommt irgendwann in Berührung damit.
Im Bereich der Telekommunikation werden Dienste als „over-the-top“ bezeichnet, weil diese Dienste auf der Spitze (oder anders gesprochen: auf der obersten Ebene) liegen. Es handelt sich also scheinbar um einen technischen Begriff. Das ISO-OSI-Referenzmodell definiert für die Kommunikation folgende sieben Schichten, wovon die Anwendungen auf der obersten Ebene liegen.
Auf Techopedia wird der Begriff wie folgt erklärt:
“An over-the-top (OTT) application is any app or service that provides a product over the Internet and bypasses traditional distribution. Services that come over the top are most typically related to media and communication and are generally, if not always, lower in cost than the traditional method of delivery.“
Aha. Es geht hier also um Dienste, die unter Umgehung der traditionellen Vertriebslinie eines Telko-Unternehmens – und damit auch meist deutlich kostengünstiger – erbracht werden. Soll heißen: Man braucht dafür nicht explizit einen Anschluss bei dem jeweiligen Telko-Provider. Der geneigte Leser fragt sich nun: “Gilt das nicht für alle Internetdienste?” Die Antwort lautet natürlich “ja”, aber darum geht es nicht. Der Begriff ist nur aus der Perspektive eines klassischen Telekom-Unternehmens zu verstehen. Und da träumen einige offensichtlich noch bis heute von alten Zeiten, in denen man mobile Dienste an einen Provider koppeln konnte, wie es vor dem iPhone etwa mit “Vodafone live!” der Fall war. Over-the-top war aus dieser Sicht alles, was der Provider nicht kontrollieren konnte.
Und vor allem nicht mehr über die Monatsrechnung abrechnen kann. Und da liegt der Kern der Bauchschmerzen, den manche Telkos bis heute mit dem Internet haben, denn ein unabhängiger Internetdienst – in der Telko-Sprache eine “OTT-Anwendung” – benötigt keinen Provider mehr, es besteht eine direkte Kundenbeziehung und zur Abrechnung nutzt man Dienste wie Paypal und nicht mehr die Monatsabrechnung des Telko-Providers. Mit der Telko-Brille sieht das dann so aus (Techopedia):
“You can think of an over-the-top application as anything that disrupts traditional billing models – from telcos or cable/satellite companies. Examples include Hulu or Netflix für video (replacing your regular TV provider) or Skype (replacing your long distance provider).”
Dem Inhalt nach handelt es sich bei OTT also um Dienste, die über Leitungen anderer Betreiber angeboten werden, wobei es unerheblich ist, welcher Provider die Netzleistungen bereitstellt. Die Netzbetreiber sind in diesem Sinne austauschbar.
Die OTT-Dienste erfordern weder eine geschäftliche oder eine technische Beziehung zu einem Netzwerkbetreiber. In jedem Fall handelt es sich um die Nutzung eines Dienstes, der nicht vom Netzbetreiber selbst angeboten wird. Youtube etwa lässt sich nur „over-the-top“ nutzen, weil kein Netzbetreiber diesen Dienst derzeit als exklusiven Teil seine Angebotes nutzbar macht.
Heute muss man konstatieren, dass dieses Horror-Szenario der “Dump Pipe”, in dem der Provider im wesentlichen nur noch für den Anschluss gebraucht wird, in weiten Teilen wahr geworden ist.
Der Verlust des direkten Kundenkontaktes bzw. der Gatekeeper-Rolle gerade bei den wachstumsstarken mobilen Netzdiensten ist die große disruptive Veränderung, die sich durch VoIP und Apples AppStore-Modell ergeben hat.
In diesem Sinn macht der Seemannsbegriff „over-the-top“ wieder Sinn, denn er bezeichnet ja die Tatsache, dass Dienstanbieter heute den Netz-Gatekeeper einfach „überspringen können. Wer also die Hürde der Netze überwinden kann, gehört zur Gruppe derjenigen, die direkten Kundenkontakt besitzen und dem Kunden direkt ein Produkt anbieten können.
Der Begriff des „over-the-top“ ist also nur aus der Perspektive eines Telekommunikationsunternehmens zu verstehen. Er steht auch für die Angst, Diensteanbieter gerade im Bereich von IPTV und internetfähigen Fernsehern könnte OTT eine große Rolle spielen.
Noch im Jahr 2010 war die Meinung verbreitet, Dienste wie Skype sollte man doch für die eigenen Kunden sperren, weil sie das eigene Telefonangebot unterlaufen. Heute weiss man – auch der Telefondienst ist ein OTT-Dienst, den die Provider im wesentlichen mit dem Anschluss verschenken – der Markt ist tot.
Der schmerzhafte Abschied vom Gatekeeper
In dem viel zu langen Festhalten an der Vorstellung, man könne die Gatekeeper-Rolle halten, haben die Telkos viel wertvolle Zeit verloren. Zeit, in der sie ihre phantastische Ausgangssituation besser hätten nutzen können, um auch bei Internetdiensten eine mächtige Position aufzubauen.
Und weil viele die Möglichkeiten des Gatekeepers im Hinterkopf hatten, hat man sich vielleicht auch nicht genügend angestrengt, wettbewerbsfähig zu bleiben.
Noch heute stört einige Telko-Manager die Vorstellung, dass Online-Angebote mit dem eigenen Netz so gar nichts zu tun haben könnten. Umgangssprachlich würde man vielleicht sagen, sie lebten in einer anderen Welt. Zum Glück erkennen die meisten die neuen Realitäten.
Heute ist Katzenjammer angesagt. Telkos brauchen eine Fitness-Kur (wie sie etwa der neue Telekom-Chef Timotheus Höttges durchführt), um sich einerseits auf die Herausforderungen einer “Dump-Pipe” einzustellen und andererseits neue Differenzierungspotentiale und Angebote zu entwickeln. Diese können auch Angebote im Bereich “Quality of Service” sein. Das wäre dann durchaus eine “Smart Pipe”, nur macht es wenig Sinn, einem alten Marktmodell nachzutrauern.
Hat man sich erst einmal vom alten Denken verabschiedet, gibt es auf einmal jede Menge Chancen auch jenseits der Gatekeeper-Rolle. Dass es durchaus spannende Möglichkeiten für Telkos gibt, zeigt das folgende Video: