Wer im digitalen Wandel innovative Produkte oder Dienstleistungen entwickeln will, muss sich den sich stark verändernden Kundenbedürfnissen und Lebensrealitäten von Kunden Rechnung tragen. Das ist mitunter mühsam, zumal klassisches Zielgruppendenken immer öfter nicht mehr ausreicht.
Wissen Sie, was ein Mimimi-Kunde ist? Vielleicht haben Sie schon einmal mit ihm zu tun gehabt. Ein bisschen sonderlich mag er auf sie wirken. Auf jeden Fall passt er in keine Schublade, denn er scheint in seiner eigenen Realität zu leben. Auf Ihre Werbemaßnahmen reagiert er selten. Festlegen möchte er sich bei Ihnen auch nicht unbedingt. Dafür hat er gewisse Ansprüche und ein feines Gespür dafür, was mit den neuen Technologien alles möglich wäre. Wie ein Kind möchte er am liebsten jeden Wunsch erfüllt bekommen, sei er auch noch so sonderbar. Wenn es nicht so läuft wie erwartet, dann wird er schnell gereizt, droht Ihnen vielleicht. Innerlich haben Sie dann schon genug. Finden Sie nicht auch, dieser Kunde stellt sich ein wenig an? All Ihre Fortbildungen zu mehr Kundennähe und Customer Value versagen und ganz still in Ihnen steigt ein Wort auf: „Mimimi!“
Sie müssen diesen Kunden nicht mögen. Aber sie sollten ihn wahrnehmen. Sollten sich seiner Realität gewahr werden, sollten sich klar machen, dass es eine gewisse Entfremdung gibt. Und ja, sie sollten versuchen, diesen Sonderling ein wenig besser zu verstehen. Denn es werden immer mehr von seiner Sorte. Diesen Kunden, der mitten auf dem Konzert einen Hamburger geliefert bekommen möchte, im Anschluss an die Vorführung wie selbstverständlich erwartet, dass sein Smartphone ohne Aufforderung die Playlist mit dem Streaming-Dienst abgleicht.
Dieser Kunde weiß genau, was möglich ist
Dieser Kunde weiß genau: der Grad an Vernetzung ist so hoch, dass es möglich ist, ihm seine auf der Reise vergessene Zahnbürste in den ICE direkt an seinen Platz zu liefern. Ein Kunde, der auch gängige Strukturen unbewusst hinterfragt, etwa indem er von seinem Arzt erwartet, in Echtzeit über die Medikamenteneinnahme informiert zu und ärztlich aus der Ferne begleitet zu werden.
Vielleicht wird dieser Kunde diesen oder jenen konkreten Service heute noch nicht erwarten. Zunächst wird er vielleicht latent unzufrieden mit den gängigen Angeboten des klassischen Massenmarketings sein. Die einzelnen Maßnahmen passen zwar zu seiner Zielgruppe, aber sie decken sich selten mit den Möglichkeiten des Augenblicks. Dieser Kunde ist immer mobil. Dazu kommt ein gewisse Ungeduld, denn er erwartet diese neuen Services ja so schnell wie möglich. Die Mischung aus Absonderlichkeit und Ungeduld kreiert also zunehmend Kunden, die wir vor dem Hintergrund unserer eigenen Realität zunehmend ablehnen. Der Mensch in uns fragt sich, warum dieser Kunde nicht einfach mal an die oben genannte Zahnbürste gedacht haben könnte oder warum er nicht die Verantwortung für seine Medikamenteneinnahme übernehmen kann. „Ist das wirklich nötig?“ denken Sie. „Ist doch alles möglich!“, denkt der Kunde.
„Ist das wirklich nötig?“ denken Sie. „Ist doch alles möglich!“, denkt der Kunde.
Die Digitalisierung hat eben nicht nur die Kundenbedürfnisse besser abgebildet, sondern bringt immer verrücktere, komplexere und persönlichere Wünsche hervor. Nicht nur können wir den Kunden in seiner Realität besser beobachten, seine Realität ist auch eine andere geworden.
Burnout der Möglichkeiten
Allerdings ist diese Situation auch für den Kunden nicht ganz einfach, denn mehr als eine latente Unzufriedenheit bleibt ihm oft nicht, weil er mit den vielen Wegen, die sich ihm theoretisch eröffnen, ganz gut beschäftigt ist. Eine Art Burnout der Möglichkeiten, die er nicht immer richtig zu nutzen weiß.
Paul Watzlawick formulierte in seiner „Anleitung zum Unglücklichsein“ zu dieser Situation des Überflusses 1969 ganz treffend: „Was kann man nun von einem Menschen […] erwarten? Überschütten Sie ihn mit allen Erdengütern, versenken Sie ihn in Glück bis über die Ohren, bis über den Kopf, so dass an die Oberfläche des Glücks wie zum Wasserspiegel nur noch Bläschen aufsteigen, geben Sie ihm ein pekuniäres Auskommen, dass ihm nichts anderes zu tun übrigbleibt, als zu schlafen, Lebkuchen zu vertilgen und für den Fortbestand der Menschheit zu sorgen – so wird er doch, dieser selbe Mensch, Ihnen auf der Stelle aus purer Undankbarkeit, einzig aus Schmähsucht einen Streich spielen. Er wird sogar die Lebkuchen aufs Spiel setzen und sich vielleicht den verderblichsten Unsinn wünschen, den allerunökonomischsten Blödsinn, einzig um in diese ganze positive Vernünftigkeit sein eigenes unheilbringendes phantastisches Element beizumischen. Gerade seine phantastischen Einfälle, seine banale Dummheit wird er behalten wollen …“
Diese Kunden eint ihre Weinerlichkeit, ihr Mimimi. Die wahre Knappheit und damit die eigentliche ökonomische Herausforderung, ist der Umgang mit dieser Situation des Überflusses, ansonsten werden wir die Zukunft „unerträglich und das Triviale enorm […] machen.“ Sie brauchen Hilfe.
Jeder Kunde ist ein Ökosystem
Unser erster Abwehrreflex der Mimimi-Kunden ist ja, dass wir ihnen nahelegen, sich zu begrenzen: „Ist das denn wirklich nötig?“ Anstatt aber über die Grenzen des Wachstums nachzudenken, sollten wir uns über das Wachstum der Grenzen Gedanken machen. Die digitale Welt hat diese Grenzen gesprengt wie keine Entwicklung zuvor. Unternehmen müssen lernen, diese komplexen Realitäten anzuerkennen, in denen die Kunden heute leben. Nicht Zielgruppendenken und Buyer’s Personas, sondern divergente Realitäten von Einzelkunden sind die große Herausforderung.
Unternehmen müssen lernen, die komplexen Realitäten anzuerkennen, in denen die Kunden heute leben.
Marcus Riesterer [1] spricht treffend vom Ökosystem Mensch: „Menschen sind fantastische und zugleich hoch emotionale Ökosysteme, und jedes dieser Systeme lebt neben seiner Diversität in seiner eigenen Realität.“ Realität ist für ihn die Kombination aus Erfahrung und Erwartung – und zwar jedes einzelnen Kunden. Diese Vielfalt in den Kundenwirklichkeiten ist neu, aber essentiell für das Marketing. Der Mensch ist Kosmos, nicht Taxis.
Das klassische Marketing versteht den Kunden in dieser neuen Komplexität noch nicht ausreichend. Es nutzt die neuen technischen Möglichkeiten nicht, um zu lernen, sondern um ihm stattdessen immer mehr vom Falschen zu bieten. Eine solche Haltung bedient nicht mehr die Massen, sondern mißversteht massenhaft.
Das Massenmarketing bedient nicht mehr die Massen, sondern mißversteht massenhaft.
Eine Analogie aus dem Politischen ist der Wutbürger, der keine konstruktiven Vorschläge mehr einbringt, sondern vor allem seiner Unzufriedenheit Lauf gibt. Letztlich steckt hinter dem Zynismus dieser Unverstandenen doch nur der „Laute Schrei nach Liebe“, wie es die Band die Ärzte so schön auf den Punkt gebracht hat: „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.“ Beide, der Wutbürger und der Mimimi-Kunde verstehen ihre Welt nicht mehr und werden damit immer unberechenbarer.
Beide, der Wutbürger und der Mimimi-Kunde verstehen ihre Welt nicht mehr und werden damit immer unberechenbarer.
Die Beispiele zeigt, wie vielfältig der Kundennutzen in unserer digitalen Welt heute sein können und wie wenig die Kunden einem Raster (wie etwa Kundensegmente) genügen, wie wir es für Massenmarketing benötigen. Sollten diese hochindividuellen und komplexen Kundenbedürfnisse zunehmen, kann sich das Marketing auf schwierige Kundensituationen einstellen. Marketing muss damit nicht nur Organisator, sondern zunächst Zuhörer, Problemversteher, dann vielleicht auch Problemlöser werden. Ein „Capo-Marketing“, welches im Dienst der Bearbeitung eines Massenmarktes triviale Vereinfachungen beim Kundenverständnis gemacht hat und daher auch einen Kundendialog führt, der immer nur in den Markt „drückt“, kann diese Dimension der Mimimi-Kunden nicht wahrnehmen. Dafür fehlt ihm die Komplexitätsfähigkeit.
Es ist wie in einer alten Ehe: ein Partner entfremdet sich zunehmend, der andere fragt sich verwundert, was denn los ist. Als Lösung kommen die alten Rezepte nicht mehr infrage, sie haben sich verbraucht.
Radikaler Kundenzentrismus als Schlüssel
Was soll man nun tun? Seit langem befürworte ich einen radikalen Kundenzentrismus als Schlüssel zur Transformation von Unternehmen – jenseits aller Cargo-Kulte. Der Schlüssel zur Transformation liegt darin begründet, wie tief Unternehmen mit diesem Ökosystem Mensch interagieren können. Dafür müssen Unternehmen es lernen, ihre Aufmerksamkeitsspanne zu erhöhen und die immer vielfältigeren Kunden-Codes lesen zu können. Ja, Sie haben richtig verstanden: gegenüber jedem einzelnen Kunden. Hierzu gehört eine neue Kommunikation auf Augenhöhe. Zudem müssen Schnittstellen und Anwendungen entwickelt werden, um mit diesen divergenten Ökosystemen in Kontakt zu treten und echte Wertschöpfung zu ermöglichen.
Unternehmen müssen lernen, ihre Aufmerksamkeitsspanne zu erhöhen und die immer vielfältigeren Kunden-Codes lesen zu können.
Technisch ist offensichtlich, dass hierzu personalisierte Angebote gehören werden, die sich durch künstliche Intelligenz besser an das Verhalten des Kunden anpassen können. Aber das sind bereits funktionale Umsetzungen, wichtiger ist zunächst die richtige Perspektive wie in Zukunft Wertschöpfung stattfinden könnte und die entsprechende Haltung dahinter, die dominante Logik der neuen Marktorientierung. Ansonsten kann das Management diese Herausforderungen nicht umsetzen. Transformation muss dem Kunden schmecken und nicht dem Chef! [2]
Buchprojekt
Der Artikel ist Teil einer Serie zum Thema der Wertschöpfung und eines umfangreicheren Beitrages zu einem gemeinsamen Buchprojekt für Dr. Winfried Felser und Prof. Dr. Heribert Meffert. Folgen Sie mir bei LinkedIn, dann werden Sie über die nächsten Teile der Serie automatisch informiert.
Anm.: Dieser Aritkel erschien am 19.2.2018 auf LinkedIn Pulse.
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Quellen:
[1] Riesterer. M. (2016), Neue Führungskultur, http://easy-leadership.de/wp-content/uploads/2017/06/Neue-Führungskultur-Marcus-Riesterer.pdf.
[2] Vehmeier, T. (2016), Willkommen in der Realität: Transformation muss dem Kunden schmecken, nicht dem Chef, https://www.linkedin.com/pulse/willkommen-der-realität-transformation-muss-dem-kunden-vehmeier/
[3] Watzlawick, P. (1983), Anleitung zum Unglücklichsein.