Future Skills in der KI-Ära: Lernen, bevor es brennt

Future Skills in der KI-Ära: Lernen, bevor es brennt

Seit generative KI die Bühne betreten hat, ist nichts mehr wie zuvor – zumindest nicht im Denken derer, die vorausblicken. Während sich operative Abteilungen noch damit beschäftigen, ob ChatGPT sauber in bestehende Prozesse integrierbar ist, hat sich der Fokus strategischer HR- und Learning-Verantwortlicher längst verschoben. Es geht nicht mehr um Tool-Kenntnisse oder einzelne Schulungen. Es geht um die Frage, welche Fähigkeiten in einer KI-gestützten Arbeitswelt überhaupt noch zählen – und wie wir sie entwickeln.

Diese Frage ist kein Luxus, sie ist überlebenswichtig. Denn während viele Unternehmen noch mit Kompetenzmodellen arbeiten, die auf vergangene Anforderungen ausgerichtet sind, hat die Technologie bereits damit begonnen, Arbeitsinhalte zu verschieben. Und zwar nicht langsam, sondern beschleunigt. Aufgaben verschwinden, Rollen verändern sich, neue Arbeitslogiken entstehen – oft unbemerkt und ohne klaren Übergang. Was früher ein evolutionärer Wandel war, ist heute eine tektonische Verschiebung.

 

Die stille Disruption der Wissensarbeit

Carl Benedikt Frey von der University of Oxford spricht in diesem Zusammenhang von funktionaler Erosion. Arbeit verschwindet heute nicht mehr abrupt, sondern wird schrittweise entwertet. Prozesse werden automatisiert, Entscheidungslogiken ausgelagert, Routineanteile durch KI ersetzt. Besonders betroffen: mittlere Wissensrollen. Also genau die Funktionen, die in klassischen HR-Logiken als “verlässliche Stützen” der Organisation gelten – Sachbearbeitung, Reporting, Koordination, Verwaltung, Service.

Diese Entwicklung ist deshalb so gefährlich, weil sie leise ist. Keine Kündigungswelle, kein Knall. Stattdessen beobachten wir: Entscheidungen werden automatisiert getroffen, Präsentationen generiert, Standard-Mails automatisch verfasst, Meetings von KI vorbereitet. Stück für Stück verliert der Mensch in bestimmten Rollen seinen funktionalen Wert – wenn er sich nicht transformiert.

Brynjolfssons Warnung: Automatisierung ohne Neugestaltung reicht nicht

Erik Brynjolfsson vom MIT nennt das Problem beim Namen: Die meisten Unternehmen nutzen KI, um bestehende Prozesse effizienter zu gestalten. Sie automatisieren – aber sie verändern nicht. Die Folge: Sie schöpfen das Potenzial der Technologie nicht aus. Oder schlimmer: Sie verpassen den Moment, in dem eine grundlegende Neudefinition von Arbeit nötig wäre.

Brynjolfsson sagt: „Don’t just automate – reimagine.“ Es geht nicht darum, bestehende Jobs schneller zu machen. Es geht darum, die Frage zu stellen, welche Aufgaben in Zukunft überhaupt noch menschliche Stärken benötigen – und welche nicht. Genau das ist die zentrale Aufgabe für HR, L&D und Transformation: die künftige Arbeit neu zu gestalten, bevor sie einem entgleitet.

 

Die Lernfrage ist keine Trainingsfrage

Hier liegt der Denkfehler vieler Organisationen: Sie glauben, man könne auf den Wandel mit mehr Weiterbildung reagieren. In der Praxis heißt das: zusätzliche E-Learnings, ChatGPT-Kurse, Prompting-Webinare. Doch so sinnvoll diese Impulse im Einzelfall sind – sie bleiben reaktiv. Die strukturelle Herausforderung wird dadurch nicht gelöst.

Lernen muss heute anders gedacht werden: nicht als Maßnahme, sondern als Infrastruktur. Unternehmen, die künftig erfolgreich sein wollen, brauchen kein „mehr“ an Weiterbildung. Sie brauchen ein anderes Wie. Lernen muss integrativer Bestandteil der Arbeit selbst werden, eingebettet in Prozesse, unterstützt von Technologie, gesteuert durch datenbasierte Kompetenzmodelle.

Oder, wie Jürgen Appelo es formuliert:

„Management is not about controlling people, it’s about designing environments for people to self-manage.“ – Jurgen Appelo

Und Lernen ist nichts anderes als Management von Veränderungsfähigkeit. Es geht nicht mehr darum, Wissen zu vermitteln, sondern die Fähigkeit zu entwickeln, mit Unsicherheit produktiv umzugehen.

 

Drei Future-Skill-Felder, die jetzt entscheidend sind

Wenn man sich die relevanten Studien anschaut – von McKinsey, BCG, WEF bis hin zu Frey und Brynjolfsson –, dann lassen sich drei übergreifende Kompetenzfelder identifizieren, die für die nächsten Jahre entscheidend werden:

Erstens: Agentic Thinking. Gemeint ist die Fähigkeit, mit autonomen Systemen zu arbeiten – also mit KI-Agenten, die nicht nur auf Zuruf reagieren, sondern Aufgaben eigenständig bearbeiten. Wer in Zukunft Ergebnisse erzielt, wird nicht mehr alles selbst tun. Aber er muss wissen, wie man Arbeit sinnvoll an Maschinen delegiert, orchestriert und bewertet.

Zweitens: Sensemaking. In einer Welt, in der Informationen jederzeit verfügbar sind, ist die entscheidende Fähigkeit das Einordnen. Welche Daten sind relevant? Welcher Kontext fehlt? Wie erkenne ich Muster – und wie vermeide ich Fehlschlüsse? Urteilsfähigkeit wird zu einer Kernkompetenz in einer Arbeitswelt, die vor allem durch Informationsüberfluss geprägt ist.

Drittens: Ko-Kreation. Die Zukunft der Arbeit ist hybrid – nicht im Sinne von Büro oder Homeoffice, sondern von Mensch und Maschine. Wer im Team mit KI-Systemen arbeitet, muss nicht nur technisch verstehen, wie die Systeme funktionieren. Es geht vor allem darum, wie man gemeinsam denkt, gestaltet, entscheidet. Kommunikation, Moderation, Empathie und Dialog werden dadurch nicht obsolet, sondern noch wertvoller.

 

Warum HR jetzt auf die strategische Bühne gehört

McKinsey kommt in seiner aktuellen Studie zu einem klaren Fazit: Nur elf Prozent der Unternehmen nutzen generative KI bislang strategisch. Der Engpass liegt fast nie in der Technologie – sondern in fehlenden Fähigkeiten, unklaren Zuständigkeiten und einer fehlenden Lernkultur.

Das heißt im Klartext: Wenn HR nicht handelt, passiert nichts. Oder schlimmer: Es wird gehandelt – aber am Bedarf vorbei. Denn ohne die Fähigkeit, zukünftige Rollen zu antizipieren und passende Lernpfade zu gestalten, entsteht kein Fortschritt. HR darf sich nicht länger als interner Dienstleister für Schulungen verstehen, sondern muss als Architekt eines zukunftsfähigen Skill-Ökosystems agieren.

 

Was jetzt zu tun ist

Organisationen brauchen jetzt eine klare Roadmap. Zuerst braucht es eine gemeinsame Standortbestimmung: Wo stehen wir beim Thema KI-Kompetenz? Welche Future Skills fehlen – nicht nur auf individueller Ebene, sondern im Zusammenspiel als Organisation? Danach müssen Lernangebote entworfen werden, die nicht auf Inhalte setzen, sondern auf Wirkung: kürzer, adaptiv, kollaborativ, technologiegestützt. Und schließlich braucht es ein starkes Narrativ – eines, das deutlich macht: Lernen ist kein Zusatz, sondern Überlebensstrategie.

Denn der größte Fehler wäre es, die Kompetenzfrage zu lange aufzuschieben. Zukunftssicherheit entsteht nicht durch Investitionen in Software, sondern durch Investitionen in Menschen. Und zwar nicht als Symbolpolitik, sondern als ernsthafte, strukturierte Transformation.

 

Lernen , bevor es brennt

Die eigentliche Gefahr liegt nicht im Fortschritt der KI. Sie liegt darin, dass Unternehmen nicht in der Lage sind, mit diesem Fortschritt umzugehen. Und dafür braucht es keine neue Plattform, sondern ein neues Denken.

HR und Learning & Development stehen nicht mehr am Rand dieser Entwicklung. Sie stehen im Zentrum. Wer jetzt beginnt, Skills systematisch aufzubauen, schafft nicht nur Sicherheit, sondern Gestaltungsspielraum. Und eine neue Rolle für HR – als entscheidenden strategischen Hebel im KI-Zeitalter.

Die Antwort auf KI ist keine Technologie. Die Antwort ist: Lernen. Und zwar jetzt – bevor es brennt.

Inhalte
    Nach oben scrollen