KI wird in fünf Jahren nicht nur Prozesse automatisieren, sondern darüber entscheiden, wem Ihre Kunden vertrauen. Dieser Artikel zeigt, wie Sie Deep Value als strategische Leitidee für Ihr Geschäftsmodell nutzen.
Die Debatte über Künstliche Intelligenz kreist oft um ein reduziertes Bild: Maschinen ersetzen menschliche Arbeit, Prozesse laufen schneller, Kosten sinken. Dieses Narrativ ist eingängig – und zugleich gefährlich verkürzt. Denn wirkliche Differenzierung entsteht an einer anderen Stelle.
Aktuell nutzen in Deutschland erst 20 % aller Unternehmen KI – ein deutlicher Anstieg von 12 % auf 20 % innerhalb eines Jahres. Bei Großunternehmen liegt der Anteil bereits bei fast 50% (Statistisches Bundesamt, 2024).
Doch Automatisierung ist nur der Anfang. Gerade entsteht eine neue ökonomische Logik: Wertschöpfung entsteht dort, wo Systeme lernen, Vertrauen aufbauen und Kunden aktiv in die Weiterentwicklung einbinden. In diesem Spannungsfeld liegt das Potenzial dessen, was ich Deep Value nenne – eine Strategie, mit der Unternehmen nicht nur effizienter, sondern resilienter und relevanter werden. (Vehmeier, 2019).
Automatisierung perfektioniert das Gestern
KI-Modelle lernen aus der Vergangenheit. Sie basieren auf Trainingsdaten und optimieren das, was bereits funktioniert. Automatisierung rationalisiert Abläufe, reduziert Fehler, senkt Grenzkosten. Auf den ersten Blick ist das eine schlüssige Kombination – aber sie bleibt auf Bekanntes beschränkt.
Für viele Unternehmen ist die KI-Automatisierung der erste produktive Zugang zur Technologie. Typisch sind einfache Prompts, die per Schnittstelle an Sprachmodelle geschickt werden, um Texte oder Analysen in bestehende Workflows einzubinden. Tools aus dem Robotic-Process-Automation-Arsenal – etwa make.com oder Zapier – machen das leicht zugänglich. Doch wer kritisch hinsieht, erkennt: Wirklich neu ist daran wenig. Automatisierung bleibt im Modus der Optimierung, nicht der Transformation.
Agentic Workflows: Der nächste Standard
Frameworks wie n8n gehen einen Schritt weiter. Sie ermöglichen nicht nur Automatisierung, sondern auch autonome Entscheidungen durch KI-gestützte Software-Agenten. Diese Agentic Workflows orchestrieren Aufgabenverteilung dynamisch zwischen Mensch, Maschine und System – entlang des gesamten Kundenprozesses.
Das ist ein Fortschritt: Prozesse werden schneller, günstiger und weniger fehleranfällig. Deshalb wird diese Logik zum Standard. Allerdings sind viele Agentic Workflows heute noch stark deterministisch – sie unterscheiden sich nur wenig von klassischen RPA-Skripten. Die Richtung ist klar, aber das Potenzial für echten Wandel wird erst ausgeschöpft, wenn Systeme nicht nur Abläufe nachbilden, sondern lernen und Neues schaffen.
Vorsprung ist nur Momentaufnahme
Teilautomatisierte und teilautonome Prozesse werden in den kommenden Jahren zum Standard. Fast jedes Unternehmen wird sie implementieren – weil sie Kosten senken und Abläufe beschleunigen. Doch als strategisches Asset taugt diese Automatisierung vor allem für Kostenführer. Premium-Anbieter und Qualitätsführer sollten weiterdenken:
- Effizienzgewinne lassen sich kaum verteidigen – jeder kann sie nachbauen.
- Wettbewerbsvorteile sind flüchtig, weil Technologien schnell verfügbar werden.
- Kundenbeziehungen bleiben oberflächlich, Vertrauen entsteht nicht automatisch.
- Wert reduziert sich auf Kostenreduktion statt auf Differenzierung.
Die frühen Pioniere profitieren kurzfristig – doch Pioniergewinne sind endlich. Schon bald werden die leistungsfähigsten Lösungen für alle zugänglich sein. Die entscheidende Frage lautet deshalb: Wie wird ein wirtschaftlicher Wert geschaffen, der nicht nur temporär ist, sondern das Geschäftsmodell nachhaltig trägt?
Wert entsteht durch Lernen und Interaktion
Für Unternehmen, die sich als Qualitätsführer positionieren, liegt der größte Hebel von KI nicht in der Kostensenkung, sondern im Aufbau lernender Systeme. KI ermöglicht es, Kunden individueller anzusprechen und Angebote laufend an wechselnde Bedürfnisse anzupassen.
Dieser erweiterte Kundenwert (Deep Value) entsteht dort, wo Unternehmen KI nicht nur nutzen, um Kosten zu senken, sondern um das System selbst lernfähig zu machen und wo Unternehmen gemeinsam mit dem Kunden lernen und ko-kreativ das Wertangebot weiterentwickeln. Statt rein transaktionaler Beziehungen entsteht ein kontinuierlicher Wertschöpfungsprozess.
Aspekte dieser Logik sind:
- Jede Interaktion wird zur Quelle der Verbesserung.
- Produkte und Services entwickeln sich dynamisch weiter – auch zwischen großen Version-Updates.
- Kunden werden aktive Partner der Wertschöpfung.
Wert entsteht nicht mehr ausschließlich in der Produktion, sondern in der gemeinsamen Weiterentwicklung von Angebot und Nutzung. KI transformiert Prozesse und verändert die Produktionsfunktion selbst: Lernen und Interaktion werden zu skalierbaren Ressourcen. Skalen- und Netzwerkeffekte sowie sinkende Grenzkosten wirken hier nicht nur auf der Angebotsseite, sondern entlang des gesamten Wertschöpfungssystems.
Feedback wird zum Geschäftsmodell
Feedback wird zum systemischen Bestandteil erfolgreicher Geschäftsmodelle. Vargo und Lusch haben in ihrer Service-Dominanten Logik bereits 2006 einen Paradigmenwechsel angestoßen: weg vom Push-Prinzip und value-in-exchange, hin zu value-in-use.
Deep Value geht noch einen Schritt weiter: Wert entsteht durch value-in-dialogue, value-in-interaction – und vor allem durch value-in-learning. Nutzerinteraktionen werden nicht nur dokumentiert, sondern aktiv ausgewertet, um das Produkterlebnis kontinuierlich zu verbessern.
Der neue Wert im Sinne eines Deep Value ist ein value-in-dialogue, aber auch ein value-in-interaction und somit vor allen ein value-in-learning. Die Signale des Users ausgewertet werden, um das Produkterlebnis dynamisch zu verbessern.
Die Gestaltung dieses Lern- und Dialogprozesses wird zu einem entscheidenden Feld der User Experience und der Differenzierung. Erst die Fähigkeit, Signale richtig zu interpretieren, schafft die Erlebnisse, die Kunden binden und Vertrauen aufbauen und lassen Wert entstehen.
Value-in-learning wirkt dabei auf zwei Ebenen:
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Es steigert den Nutzen für alle Kunden, wenn generelle Muster erkannt und in Produktverbesserungen überführt werden.
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Es maximiert den Wert für einzelne Kunden, wenn individuelle Präferenzen dynamisch berücksichtigt werden.
Im ersten Fall fließt das Wissen in die klassische Produktentwicklung, im zweiten direkt in die Auslieferung, Komposition und Personalisierung von Angeboten. Genau hier entsteht der nachhaltige Wettbewerbsvorteil für Qualitätsanbieter.
Ergänzen statt Ersetzen
Trotz des wachsenden Einsatzes von KI bleibt ein Prinzip zentral: value-in-learning versteht KI nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung menschlicher Fähigkeiten.
Unternehmen, die sich nicht als reine Kostenführer, sondern als Qualitätsanbieter positionieren, sollten genau hier ansetzen.
Deep Value ist ein Konzept human-zentrierter Künstlicher Intelligenz (Human-Centered AI). Es beschreibt Wertschöpfung, die aus lernenden Systemen, dialogischer Interaktion und geteilter Kontrolle entsteht – eine Verschmelzung von datengetriebener Ökonomie und Co-Creation.
Deep Value ist somit ein Konzept der human-zentrierten Künstlichen Intelligenz (Human Centered AI – HCAI). Deep Value beschreibt Wertschöpfung, die durch lernende Systeme, dialogische Interaktion und geteilte Kontrolle entsteht. Es ist die Verschmelzung von Human-Centered AI mit einer datengetriebenen Ökonomie der Co-Creation.
Während Deep Value das strategische Ziel beschreibt, mit KI Wertschöpfung neu zu definieren, indem Unternehmen Vertrauen, Lernen und Co-Creation systematisch integrieren, ist Value-in-Learning dabei der zentrale Mechanismus: der Wert entsteht, weil das System kontinuierlich aus jeder Interaktion lernt und sich adaptiv verbessert. Dabei bleibt der Mensch im Zentrum, da sowohl Daten als auch die in den neuronalen Netzen gespeicherten Wahrscheinlichkeiten auf menschlichem Handeln basieren. Die Modelle bilden diese nur ab.
Dabei ist nicht festgelegt, dass alle Signale ausschließlich durch KI ausgewertet werden müssen. Gerade im Premium-Segment können menschliche Agenten als Kuratoren Sinnzusammenhänge verfeinern und Erlebnisse persönlicher gestalten. Die Balance zwischen technischer Automatisierung und menschlicher Begleitung wird sich mit dem technischen Fortschritt und der Akzeptanz der Nutzer dynamisch weiterentwickeln.
Die eigentliche Herausforderung liegt darin, die richtigen Schlüsse aus den Daten zu ziehen – wer das beherrscht, schafft Erlebnisse, die schwer kopierbar sind.
Human-in-the-Loop: KI ergänzt den Menschen
m Value Loop bleibt der Mensch eine zentrale Komponente. Die Grenze zwischen Automatisierung und Augmentation ist jedoch nicht starr, sondern verschiebt sich dynamisch je nach Service, Situation und Kundenerwartung.
Entlang der Customer Journey zeigt sich:
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In manchen Phasen bevorzugen Kunden eine schnelle, vollautomatisierte Bearbeitung.
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In anderen Momenten erwarten sie, dass Ergebnisse kuratiert oder durch Menschen erklärt und eingeordnet werden.
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Gerade im Premiumsegment wird der persönliche Kontakt oft zum entscheidenden Differenzierungsfaktor.
Auch wenn sich die Grenzen verschieben werden, so bleibt dieser Zusammenhang im Verhältnis zwischen Mensch und Maschine auch in Zukunft bestehen:
- KI ersetzt nicht pauschal, sondern ergänzt und verstärkt menschliche Fähigkeiten.
- Menschen nutzen KI als Werkzeug zur Entscheidungsunterstützung, Analyse oder Kreation.
- Menschen interagieren mit intelligenten Systemen, die sie verstehen, begleiten und adaptiv unterstützen.
So entsteht ein Wertschöpfungssystem, das nicht nur effizient arbeitet, sondern auch resilient ist – und Erlebnisse schafft, die Vertrauen und Loyalität begründen
Vertrauen wird zum Produktionsfaktor
Nutzerakzeptanz ist die Voraussetzung für den Erfolg KI-gestützter Services. Vertrauen ist dabei keine weiche Begleiterscheinung, sondern ein ökonomischer Produktionsfaktor – eine absolute Notwendigkeit.
Dazu braucht es drei Kernprinzipien:
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Erklärbarkeit: Systeme müssen nachvollziehbar sein.
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Kontrolle: Kunden behalten die Hoheit über ihre Daten und Interaktionen.
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Verantwortung: Governance und Ethik werden integrale Bestandteile des Designs.
Je komplexer und autonomer KI-Systeme werden, desto entscheidender wird ihre rechtliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Absicherung. Unternehmen, die hier glaubwürdige Strukturen schaffen, gewinnen nicht nur Vertrauen, sondern sichern sich Marktzugänge und langfristige Kundenbindungen.
Neue Produktionslogik: Lernen als Wachstumstreiber
Die Implementierung auf Augmentation setzender Systeme verändert damit die Logik der Wertschöpfung grundlegend:
- Geschäftsmodelle werden dynamischer, datengetriebener und netzwerkartiger.
- Märkte entstehen nicht mehr primär durch Angebot und Nachfrage (value-in-exchange), sondern werden ebenfalls durch Lernprozesse und adaptive Systeme beinflusst (value-in-learning).
- Datenflüsse, Interaktionen und Governance werden strategische Ressourcen.
Kurz gesagt: Deep Value entsteht nicht mehr durch das, was ein Unternehmen heute anbietet, sondern durch die Fähigkeit, systematisch besser zu werden – gemeinsam mit seinen Kunden, Partnern und Daten.
Gefordert ist systemische Kompetenz
Echte Wettbewerbsvorteile entstehen nur, wenn Unternehmen KI systemisch verstehen – nicht als technologische Optimierung, sondern als Gestaltung neuer ökonomischer Spielfelder. In diesen Märkten werden Lernen, Vertrauen und Interaktion selbst zu Produktionsfaktoren.
Wer KI strategisch führen will, braucht daher mehr als Tool-Kompetenz. Gefragt ist:
- ein systemisches Verständnis der neuen Wertschöpfungslogik.
- die Fähigkeit, menschliche und maschinelle Kompetenzen sinnvoll zu orchestrieren.
- ein Governance-Design, das Verantwortung, Vertrauen und Skalierung zusammenbringt.
- ein Geschäftsmodell, das Lernen und Interaktion ökonomisch aktiv nutzt.
Deep Value bedeutet, KI nicht nur als Automationsinstrument zu sehen, sondern als Plattform für lernende Wertschöpfung. Genau hier liegt der Hebel, der Strategen, Produktverantwortlichen und Innovationsführern einen Vorsprung sichert.
Abstract
Der Value Loop beschreibt ein adaptives Lernsystem, das kontinuierlich aus Kundendaten, Interaktionen und Feedback neues Wissen erzeugt – und daraus differenzierende Angebote entwickelt. Anders als reine Automatisierung ermöglicht dieser Lernzyklus nicht nur Effizienzgewinne, sondern schafft eine dynamische Wertschöpfung, die Wettbewerbsvorteile verteidigt und den Kunden dauerhaft bindet. Unternehmen, die den Value Loop strategisch nutzen, verwandeln Daten in echten Fortschritt und sichern sich nachhaltige Relevanz im Markt.
Quellen
- AI Monks (2024): Tesla FSD Unlocked: The Neural Revolution in Autonomous Driving, https://medium.com/aimonks/tesla-fsd-unlocked-the-neural-revolution-in-autonomous-driving-afb9966e4b00
- Brynjolfsson, E., Rock, D., & Syverson, C. (2019). The Productivity J-Curve: How Intangibles Complement General Purpose Technologies. MIT Initiative on the Digital Economy Research Brief, Link (16.06.2025): https://ide.mit.edu/sites/default/files/publications/2019-04JCurvebrief.final2_.pdf (relevante Arbeit zur ökonomischen Logik lernender Technologien)
- Coase, R. H. (1937). The Nature of the Firm. Economica, 4(16), 386-405.
(Grundlage für die Diskussion um Transaktionskostenreduktion durch KI) - Dong, Xiaojing & Mcintyre, Shelby. (2014). The Second Machine Age: Work, Progress, and Prosperity in a Time of Brilliant Technologies. Quantitative Finance. 14. 10.1080/14697688.2014.946440, Link: https://www.researchgate.net/publication/266742603_The_Second_Machine_Age_Work_Progress_and_Prosperity_in_a_Time_of_Brilliant_Technologies. (Wichtige Grundlagen zu Automatisierung vs. Augmentation)
- Shneiderman, B. (2020). Human-Centered Artificial Intelligence: Reliable, Safe & Trustworthy. International Journal of Human–Computer Interaction, 36(6), 495-504, Link (16.06.2025): https://arxiv.org/abs/2002.04087
(Der zentrale HCAI-Ansatz) - Statistisches Bundesamt (2024), Jedes fünfte Unternehmen nutzt künstliche Intelligenz, Pressemitteilung Nr. 444 vom 25. November 2024, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/11/PD24_444_52911.html
- Vargo, Stephen & Lusch, Robert. (2004). Evolving to a New Dominant Logic. Journal of Marketing. 68. 1-17. 10.1509/jmkg.68.1.1.24036, Link https://www.researchgate.net/publication/200167378_Evolving_to_a_New_Dominant_Logic (zentraler Grundlagenartikel zur Service-dominanten Logik)
- Vargo, Stephen & Lusch, Robert. (2008). Service-Dominant Logic” Continuing the Evolution. Journal of the Academy of marketing Science. 36. 1-10. 10.1007/s11747-007-0069-6, Link: https://www.researchgate.net/publication/272566616_Service-Dominant_Logic_Continuing_the_Evolution, (Weiterentwicklung der ursprünglichen Theorie mit stärkerer Betonung auf Co-Creation und Interaktion)
- Vehmeier, Thomas (2019), Deep value: competitive edge through collaborative value creation, in: Medium, 18.01.2019, Link: https://medium.com/@thomasvehmeier/deep-value-competitive-edge-through-collaborative-value-creation-52a3148ed134 (Grundsatzartikel zu Deep Value)
- Vehmeier, Thomas (2019): Selbstverstärkendes Lernen als digitaler Wettbewerbsvorteil, 06.02.2019, Link: https://www.linkedin.com/pulse/selbstverst%C3%A4rkendes-lernen-als-digitaler-thomas-vehmeier