Kreative Apartheid

    Warum Innovation nur gemeinsam geht.

    Jedes Unternehmen braucht Innovation. Für Internet-Unternehmen ist Innovation überlebenswichtig. Experten wie Guy Kawasaki (“Art of the Start”) hört man gern zu. Doch um neue Impulse für das eigene Unternehmen zu bekommen, braucht man nicht unbedingt teure Kongresse besuchen. Denn die wichtigste Ressource für Innovation sollte bereits zur Verfügung stehen: die eigenen Mitarbeiter. Tja und – man kann es kaum glauben – die Kunden. Klingt einfach? Ja, wenn da nicht die Hierarchien wären, die fast jedes Unternehmen bestimmen, und die Innovationen ausbremsen können – und die “Kreativabteilungen”.
    Jedes Unternehmen, welches Produkte herstellt, die einem schnellen Wandel unterworfen sind, ist überdurchschnittlich stark von Innovation abhängig. Diese setzt dummerweise die Kooperation der Mitarbeiter voraus. Wie holt man also das Maximum an Impulsen aus den Mitarbeitern heraus? Es scheint jedenfalls nicht damit getan zu sein, dass die Mitarbeiter bezahlt werden. Sie müssen auch dauerhaft bereit sein, das eigene kreative Potential der Firma zur Verfügung zu stellen.
     

    Kreativität – ein Discountbegriff

    Paradoxerweise ist aber die Kreativität eine in den meisten Firmen – auch in der Internetbranche – nicht viel beachtete Ressource. Es wird viel darüber geredet, jeder möchte als innovativ gelten, aber keiner möchte sich gern die Hände schmutzig machen. Denn seien wir mal ehrlich: um dieses Öl des Informationszeitalters zu fördern braucht man vor allem gute Nerven und riskiert viel (wenn die Idee nicht so gut war). An diesem neuen Öl hängt also viel Schmutz und Ärger! Wer etwas Neues vorschlägt, setzt damit das Bestehende herab. Das kann man zwar freundlich umschreiben. Es ändert aber nichts daran: der ein oder andere Kollege mag dadurch persönlich verletzt sein. In vielen Organisationen ist es für die Mitarbeiter daher rationaler, sich nicht innovativ zu zeigen, um sich nicht den Mißmut von Kollegen und Vorgesetzten zuzulegen.

    Zumindest habe ich noch nie von jemandem gehört, der gefeuert wurde, weil er nicht kreativ genug war. Höchstens zu unbequem oder vorlaut.

    Wer kreativ ist, wagt also etwas. Etwas, für das er in aller Regel eben nicht bezahlt wird. Das ökonomische Gut der Kreativität ist also offensichtlich nicht durch Zwang zu fördern. Innovation sezt ein freiwilliges Geben voraus.
     

    Kreative Berufsbezeichnungen zur Abwehr von Kreativität

    Wie heben nun die deutschen Multimediaagenturen dieses Gold? Es gibt allerlei kreativ und innovativ erscheinende Berufsbezeichnungen: strategischer Planer, Konzepter, Informationsarchitekt, Kreativdirektor. Wow! Und was tun diese Personen den ganzen Tag? Kreativ sein? Mag sein. Aber dies sagt uns nichts über die Verteilung der Ressource Kreativität? Sind nur diese Personen für Innovation zuständig? Das zumindest suggerieren die Begriffe. Und das sollen sie wohl auch. Es geht um Abgrenzung und Zuständigkeiten. Zuständigkeiten? Das klingt wie “Amt für Innovation”. Oder “Kreativitätsbehörde”. Der Kreativdirektor in Wirklichkeit ein verkappter Sparkassenleiter, der hinter seinem Schalter, die Kreativanträge prüft?
    Durchaus. Und es gibt Beweise. Wer kennt ihn nicht, den Begriff des “Kreativen” – verwendet etwa für Konzepter, Grafiker, Webdesigner und Informationsarchitekten. Der “Kreative” scheint eine Art Sonderwesen zu sein, eine angestellter Sonderfall. Nicht der Normalfall eben in Durchschnittsagenturen. Sonst müßte man ihm nicht diese Auszeichnung verleihen.
    In der Vorstellung viele Agenturen sind es also die “Kreativen”, die die tollen Einfälle haben und sich all die neuen Dinge ausdenken, während der Rest die genialen Ergüsse umsetzt. Merkwürdig: die besten Ideen sind mir oft von Kunden oder Mitarbeitern zugetragen worden oder sind im Gespräch entstanden. Offenbar sind die “unkreativen” Personengruppen geradezu dankbar (und fleißig), wenn sie mal mitspielen dürfen …

    Wenn also die “Kreativen” für die Innovation zuständig sein sollen und der Rest sich um etwas anderes kümmern soll, dann kann man diesen Zustand durchaus “kreative Apartheid” nennen.

    Kann ein Internetunternehmen in einem Zustand der kreativen Apartheid innovativ sein?
     

    Spielen verboten?

    Kreativität ist dem Menschen angeboren. Meine Vermutung ist, dass es nicht wirtschaftlich rationales Kalkül, sondern der angeborene Spieltrieb, der Innovation hervorbringt. Gefolgt vom Motiv der sozialen Anerkennung.
    Die besten Internetprojekte sind in meiner Arbeit immer entstanden, wenn es keine Tabus gab und wir abwechselnd durch sehr geplante und gut organisierte Phasen und Phasen des “Wahnsinns” gegangen sind. Jeder bewundert den Van Gogh im Museum. Aber wer weiß heute noch, wie viele Bilder er als Entwürfe benötigte und vernichtete?
    Spiel und Anerkennung – beides immaterielle und vor keine monetären Impulse. Dennoch sollte man Innovation auch materiell belohnen, da es sich bei der Arbeit eben um den Broterwerb handelt und es als ungerecht empfunden wird, wenn das Unternehmen Geld mit Ideen macht und der Mitarbeiter leer ausgeht. Leistungsgerechte Bezahlung ist also nicht der Ausgangspunkt, erzeugt also keine Innovation, wird aber ex post (insgeheim) erwartet. Den Spieltrieb zu fördern und die richtigen Leute zusammenzubringen halte ich aber für den Schlüsselpunkt. Widerspruch zu ertragen und den Dialog mit den Mitarbeitern zu führen ist hier die Forderung an Vorgesetzte. In manchem widersprechenden Mitarbeiter keinen Querulanten, sondern einen Unternehmer zu entdecken, der seine Ideen einbringen will, erfordert viel Fingerspitzengefühl.

    Es ist nicht damit getan, daß sich alle duzen dürfen und dass es einen Kickertisch gibt. Widerspruch auf der einen und Respekt auf der anderen Seite, sind wichtiger als äußere Zeichen.

     

    Auch noch das – kreative Kunden

    Aber nicht nur die Mitarbeiter sind die Ressource für Kreativität und Innovation. Wer sich allein auf die Mitarbeiter verläßt, hat schon 50% dazu beigetragen, dass eben nicht genügend Innovation ins Unternehmen fließt. Volkswirtschaftlich gesprochen: die Allokation der Ressourcen ist suboptimal.
    Die meisten “Kreativen” geniesen nämlich oft ihre Sonderrolle und neigen dazu sich von der Außenwelt abzuschirmen. Es ist ein Bonmot, daß Architekten gern privat in Altbauten wohnen, aber beruflich bevorzugt in Beton planen… Kein Zeichen dafür, daß ein Dialog mit der Zielgruppe stattgefunden hat. Dasselbe in Internetagenturen. Da wird der Usability-Experte beauftragt anstatt mal mit den Kunden zu sprechen …
     

    Marktforschung – Bollwerk gegen Neues

    Mit den Kunden sprechen – das tut Ihre Firma? Ach, Sie setzen Marktforschung ein, um Kundes Meinung zu erfahren! Ja, vielleicht, weil Sie insgeheim wissen, das Marktforschung das beste Mittel gegen unplanmäige kreative Vorschläge (und die damit einhergehenden unbequemen Änderungsprozesse) ist. Marktforschung ersetzt nicht den Dialog, der auf Augenhöhe stattzufinden hat und erst kreative Impulse setzt. Wer ein neues Produkt entwickelt und sich allein über Umfragen ein Bild über die Bedürfnisse der Kunden aufbauen möchte, sollte sich bewußt sein, dass das Ergebnis vom Design der Umfrage ab. Sind die Fragen so gestellt, dass nur die sowieso vorausgewählten Lösungen bejaht oder verneint werden können, so ist Marktforschung der Feind des Neuen.
    Der Kunde bekommt, Pepsi und Coca-Cola vorgesetzt und soll sagen, was ihm besser schmeckt. Was nun, wenn der Kunde sagt, er wünsche einen frischeren Geschmack, vielleicht Litschi… Die Bionade wäre nie anhand von Marktforschung erfunden worden.
    Marktforschung kann keine Innovationsprozess ersetzen, sondern nur der Absicherung eines bereits eingeschlagenen Weges dienen. Marktforschung wird aber gern von der kreativen Klasse eingesetzt, um wirklich neues zu verhindern. Fragt man die User einer Website, ob sie Video wünschen, sagen sie vermutlich ja. Letztlich kann man mit Marktforschung jedes Ergebnis irgendwie durch die Art der Frasgestellung hinbekommen.
     

    Kreatives Verhalten stört

    In “The Rise of the Creative Class” hat Richard Florida 2004 die wachsende volkswirtschaftliche Bedeutung der Kreativität für das Informationszeitalter hergeleitet. Unsere Vorstellung von Bildung basiert heute auf Wissen. Floridas meint hingegen, dass der taxifahrende Germanist zwar etwas weiss, aber volkswirtschaftlich nichts kreatives beiträgt. Daher kommt es ihm weniger darauf an, was jemand wisse, sondern was er tut.
    Doch warum wird Kreativität nicht mehr gefördert? Vielleicht weil kreatives Verhalten nicht unbedingt immer so beliebt ist. König (1986) fand in Tests heraus, dass Lehrer lieber hochintelligente als hochkreative Schülerer unterrichteten, da letztere eher unruhiges Verhalten zeigen, häufiger solche Fragen stellen, die LehrerInnen behindern, im Stoff fortzufahren, oder bei denen sich Probleme haben, diese zu beantworten. Hochintelligente unterscheiden sich von Hochkreativen hinsichtlich ihrer Persönlichkeit darin, dass sie viel Wert auf Erfolg legen, während Kreative eher Humor schätzen und es ihnen wichtig ist, mit anderen Menschen gut auszukommen.
    Wenn das stimmt, hätte die Kreativen den Spieß einfach herumgedreht …
     
    Quellen:

    • König, F. (1986). Kreativitätsdiagnostik als essentieller Bestandteil der Intelligenzdiagnostik. Diagnostica, 32, S. 345-357.
    • Florida, Richard L. (2004): The Rise of the Creative Class, revised Paperback edition, New
      York: Basic Book.

     
    (Anmerkung: dieser Artikel erschien zuerst am 30. August 2008 auf InternetEconomics.de von Thomas Vehmeier.)

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    Thomas Vehmeier

    Thomas Vehmeier ist Diplom-Volkswirt, Digital-Stratege und Plattformökonom. Online bereits seit 1993, berät er heute Konzerne und mittelständische Unternehmen bei ihrer Internet-Strategie und unterstützt im Interim-Management – zuletzt im ThinkTank des Telekom-CEO, zuvor vor allem für Franchise-Zentralen und Handelsunternehmen.
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