Das Märchen vom digitalen Schlaraffenland

    Hier soll es nicht um das Für und Wieder sogenannter Kostenlos-Strategien gehen. Trotz all der richtigen Argumente bzgl. möglicher Netzwerkeffekte und auch wenn heute das meiste im Netz verschenkt wird, so beinhalten die Freeconomics für mich auch ein gefährliches Märchen von einer besseren Welt.

    Gefährlich warum? Märchen erzählen sich von selbst, weil man so gern an sie glaubt. Und obwohl sie einen wahren Kern enthalten, sind sie doch in der Regel frei erfunden. So scheint die Namensähnlichkeit zwischen Chris Anderson und Hans Christian Andersen vielleicht doch kein Zufall zu sein. Deshalb möchte ich heute dieses Märchen erzählen. Und das Internet scheint sich für Märchen aller Art fabelhaft zu eignen.
     
     
    Einleitung
     
    In turbulenten Zeiten, in denen die Menschen Träume brauchen, erzählt man sich gern das Märchen von einem schönen Land, dahin mancher gern ziehen möchte, wenn er wüsste, wo es liegt. Dieses schöne Land heißt auch heute noch Schlaraffenland. Das Land, von dem ich Euch heut erzählen mag.
    So begab sich zu unruhiger Zeit …
    Es begab sich zu einer Zeit in einem Königreich voller Unruh, dass viele Untertanen ihre Arbeit und ihren Frieden verloren. So erging es auch einem Gesellen, der ohne Arbeit und seinen rechten Glauben in sich war. Den Unglückseeligen quälten Fragen über Fragen und Sorgen über Sorgen. Mit seiner Arbeit hatte er zwar seine Freiheit gewonnen aber einen Teil seines Mutes verloren. Die Welt um ihn herum schien sich immer schneller zu drehen. Allein, er fand keinen Halt.
     
    … einen Wandersmann ich traf …
    Welch’ ein Glück, als er in einem Gasthaus einen aufgeweckten Nachbarn neben sich am Tische sitzen sah. Dieser war ein außergewöhnlich schöner Mensch. Hochgewachsen und tadellos gekleidet. Er schien ein Wandersmann zu sein, denn er trug sein ganzes Gepäck bei sich herum. Aus seinem Munde kam nur das reinste Deutsch und nur die edelsten Sätze. Obwohl vom gleichen Schicksal erfasst, war er von bester Laune. Frohen Mutes war er völlig unbekümmert, keinem Herrn mehr zu dienen. Er sprach “Ich weiß, wie Du Dich fühlst, aber das ist vollkommen unnötig. Denn ich komme aus einem Land, dort gibt es keine Knappheit und keinen Mangel. Mutlosigkeit und Unglück sind dort gänzlich unbekannt.”
    Der Wanderer hatte eine kleine Kiste auf seinem Tisch, in die er hineinschaute. “Komm, schau auch Du hinein. Da drinnen kannst Du einen Blick auf das Glück werfen.” Dem arbeitslosen Gesellen schien das absolut abwegig, doch es interessierte ihn doch. Der Wanderer fuhr fort: “Alles, was Du Dir vorstellen kannst, ist in diesem Land umsonst. Du kannst gern eine Kostprobe haben. In der Kiste siehst Du die schönsten Sonaten, die freiesten Texte, die verrücktesten Ideen. Auch ertönt soviel Musik, wie Du willst und kannst Du die schönsten Geschichten in Bewegung sehen. Sobald Du daran denkst, werden sich Dir diese Dinge zeigen.”
    Der Geselle dachte an ein sein liebstes Gedicht und schon erklang es aus der Kiste. Eine wunderschöne, anmutige Frauenstimme las ihm die Zeilen vor und die ließ sein Herz erweichen. Auch die lieblichste Musik kannte die Kiste wie von selbst ohne dass eine Kapelle in der Nähe gewesen wäre. “Das ist nur ein Vorgeschmack auf das Land, von dem ich Dir erzählen will.” sprach der Wanderer.
     
    … der mir Mut und Hoffnung gab …
    Da fühlte sich der traurige Gesell an seine Kindheit erinnert. Kleine Tränen bildeten sich in seinen Augen. Und sogleich kam ihm die Erinnerung an ein Märchen über ein Land, wovon ihm seine Großmutter so oft erzählt hatte: “Da sind Häuser gedeckt mit Eierkuchen, die Türen sind von Lebzelten und die Wände von Schweinebraten. Um jedes Haus steht ein Zaun, der ist aus Bratwürsten geflochten. Aus allen Brunnen fließt süßer Wein und süßer Saft.[…] Die Fische schwimmen im Schlaraffenland oben auf dem Wasser. Sie sind auch schon gebacken oder gesotten und schwimmen ganz nahe am Ufer. […] Die Spanferkel laufen gebraten umher, das Messer steckt ihnen schon im Rücken, damit, wer will, sich ein frisches, saftiges Stück abschneiden kann. […]“.
     
    … auf Fabriken wie Paläste …
    Kaum hatte er dies geträumt, setzte der Wanderer fort, das wunderschöne Land zu rühmen. Auch die Arbeit sei dort nicht nur reichlich vorhanden, sie sei der reinste Spaß: “Da sind Fabriken so schön wie die freundlichsten Paläste und die Meister die besten Freunde der Gesellen. Die Menschen in diesem Land haben es endlich verstanden: Arbeit soll schließlich Erholung sein und keine Mühsal. Urlaub ist deshalb dort auch überflüssig, weil jede Arbeit dort die reinste Entspannung ist. Stell Dir vor, manch einer reist aus einem fernen Land dorthin, nur um ein bisschen arbeiten zu können. Denn die Arbeit dort ist das reinste Jungbad. Alte und Kranke baden in der Arbeit drei Tage oder vier, und sie werden gesund und jung und schmuck und sehen wie siebzehn oder achtzehn aus.
    Er setzte in einem fort: Überall darf man spielen und den Meister darf man duzen so oft man will. Die Arbeiter schuften dort nicht mehr, sondern spielen zur Entspannung. Spielen und Schabernack ist dort nicht nur überall erlaubt, sondern sogar erwünscht. Manieren sind dagegen überflüssig. Wer die Leute am besten necken und aufziehen kann, bekommt jedes Mal ein Goldstück. Manch einer genehmigt sich bei der Arbeit sogar einen oder arbeitet direkt im Gasthaus.
    Der Wanderer sprach: “Tja, dass dachtest Du wohl nicht, aber das nennen wir dort Arbeit! Aber mit der Arbeit soll man es nicht übertreiben. Denn jede Stunde Schlafen bringt dort ein Silberstück ein und jedes Mal Gähnen ein Goldstück. Wer all zu viel arbeitet, das Gute tut und das Böse lässt, der wird aus dem Schlaraffenland vertrieben. Aber wer nichts kann, nur schlafen, essen, trinken, tanzen und spielen, der wird zum Grafen ernannt. Und der Faulste wird König im Schlaraffenland.”
     
    … und überall die schönsten Waren …
    Der arme Gesell war irritiert: “Ja, aber wie sollen denn bei diesen Zuständen all die schönen Dinge und Waren entstehen, von denen Du sprachst? Irgendeiner wird sie doch wohl herstellen und sich für all den Reichtum schuften müssen …”
    Doch der schöne Bote aus dem Schlaraffenland fuhr fort: “Nun hör, wie dort all die schönen Waren entstehen.
    All die flüchtigen Dinge wie die schönen Künste – denk nur an ein Gedicht oder eine Sonate – fliegen Dir einfach ins Haus, sobald Du daran denkst.”
    Aber auch all die Dinge zum Anfassen, kommen aus einer ähnlichen Kiste, wie ich sie bei mir habe. Es gibt dort überall diese Wunderkisten. Wie eine Druckmaschine spuckt sie einfach alles aus, was Du Dir wünscht! Jeder setzt sich vor eine solche Kiste und druckt fleißig aus, was ihm gerade einfällt! Vielleicht ein neues Kleid oder ein schöner Kerzenständer?
    Der anfangs ungläubige Geselle, der dies nun gar nicht mehr glauben mochte, fragte schon ganz kleinlaut, wer denn umsonst arbeiten könne und seine Künste so frei verschenken könne, wenn er vielleicht eine Familie zu ernähren habe. Irgendwie traute er sich kaum noch nachzufragen, so überzeugt war der Wanderer, so sicher sein Auftreten.
    In der Tat schienen in dem beschriebenen Land all die schönen Dinge unsichtbar hergestellt zu werden. Nun, vielleicht waren es nur die ewigen Nörgler und Zweifler, die das Schöne in der Welt einfach nicht ausreichend wahrnehmen konnten. Die ihm die Wunder, die sein neuer Freund mit ihm teilen wollte, nur madig machen wollten. Sollte er sich von diesen Ewiggestrigen, diesen Engstirnigen Zauderern um sein Glück bringen lassen?
     
    … und Freunde und Reichtum überall …
    Mittlerweile stand das halbe Gasthaus um die beiden versammelt und hörte gebannt zu. Doch der lässige Wanderer hatte noch nicht alles erzählt. Es ging in einem weiter fort: “Doch wenn Du zu Reichtum kommen möchtest, so nichts einfacher als das. Denn die reichsten Männer dort, sind diejenigen, die all ihre Waren einfach verschenken. Ja, mit Geschenken kann man sich dort nicht nur Freunde machen. Man wird sogar reich, wenn man seine Waren einfach hergibt. Für jeden, der ein kleines Ding oder auch nur einen Gedanken verschenkt, werden morgen tausend Dukaten in seinem Geldbeutel glänzen. Wer die meisten Freunde zählt, wird auch der reichste Mann dort sein. Und dies steht allen offen. Jeder kann jedermanns Freund werden ohne diesen auch nur treffen zu müssen. Wünscht Du Dir nicht auch einen Freund, der für Dich da ist, den Du aber nicht andauernd besuchen musst?”
    Doch, so einen Freund wünschte sich der traurige Gesell nur allzu gern. Und vom Reichtum träumt er nun auch. Wozu soll ich arbeiten, wenn ich reich sein kann?! Recht hast Du! rief er seinem neuen Freund zu.
     
    Und Geld so viel Du brauchst…
    Nur ließ ihm eine Frage keine Ruh: “Sag mir, woher soll ich denn all die Dinge nehmen, die ich dort verschenke um Freunde zu bekommen und reich zu werden?” fragte ihn der arme Gesell.
    Doch auch darauf hielt der Wandersmann eine Antwort bereit: So wie Du einfach Deine besten Waren verschenkst, so schenken Dir andere einfach ihr Geld, damit Du das Spielchen immer weiter treiben kannst. Die Geldbeutel dort haben große Taschen und holst Du einen Silberling heraus, liegen geschwind gleich zwei neue darin. Es gibt dort Banken, die das Geld nur für den Zweck sammeln, damit Du es verschenken kannst. Aber Du musst versprechen, dass Du immer daran glauben wirst, dass Du Gutes damit tust.
    Jetzt erinnerte sich der Gesell. Hieß es nicht in dem alten Märchen “Das Geld kann man von den Bäumen wie gute Kastanien schütteln. Jeder mag sich das Beste herunterschütteln, das Mindere lässt er liegen. […] An den Tannen hängen Armbanduhren. Auf den Stauden wachsen Stiefel und Schuhe, Sommer- und Winterhüte und allerlei Kopfputz.”?
     
    … doch warte nicht zu lang!
    Dem traurigen Gesell schien es langsam, als sei er der einzige und letzte, der noch nicht erkannt hatte, dass es sich in diesem Land so wunderbar leben ließ. Warum hatte er nur so lange gezweifelt und hatte so lange verharrt. Nun waren vielleicht schon alle Plätze dort vergeben.
    Es ist doch viel schöner frei zu sein, also sich mit den dunklen Gedanken an Plackerei und mühevollen Schuftens abzugeben, wie es woanders der Fall ist! Doch kaum hatte er ausgesprochen, war der Nomade verschwunden. Es blieben nichts als der Nachhall seiner Worte.
     
    .. Geh dorthin
    Der unglückliche Gesell war beklommen. Nun, da er so viel von diesem sagenhaften Land gehört hatte und so viele Beweise gesehen hatte, waren seine Zweifel fast restlos ausgeräumt. Und nun war sein neuer Freund verschwunden. Nun schien ihm, als habe es ihn nie gegeben, als habe er mit einem Geist oder mit sich selbst gesprochen. Und obwohl er sich nicht sicher war, ob das eben Erlebte wirklich stattgefunden hatte, beschäftigte ihn nur noch eine einzige Frage. Wie konnte er den Weg finden, um auch derart sorgenfrei leben zu können. Wen sollte er bloß fragen?
    Da erinnerte er sich an die Erzählung seiner Großmutter. darin hieß es doch “Und wer gern hinreisen will, aber den Weg nicht weiß, der frage einen Blinden. Auch ein Stummer wird ihm keinen falschen Weg sagen. Aber der Weg dahin ist weit für die Jungen und für Alten, denen es im Winter zu heiß und im Sommer zu kalt ist. Noch dazu ist um das ganze Land herum eine berghohe Mauer aus Reisbrei. Wer hinein oder heraus will, muss sich da erst mal durchessen.”
     
     
    Links:

    • neunetz.com: Umsonstkultur im Internet zu großen Teilen systemimmanent
    • Martin Weigert, in: zweinull.cc, “Das Problem mit der Gratiskultur im Web“
    • Andreas Göldi, in: Medienkonvergenz, “Das psychologische Problem der Internetbranche“
    • hackr: “Querfinanz“
    • Hank Williams, in Sillicon Alley, “Free is killing us – blame the VCs“

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    Thomas Vehmeier

    Thomas Vehmeier ist Diplom-Volkswirt, Digital-Stratege und Plattformökonom. Online bereits seit 1993, berät er heute Konzerne und mittelständische Unternehmen bei ihrer Internet-Strategie und unterstützt im Interim-Management – zuletzt im ThinkTank des Telekom-CEO, zuvor vor allem für Franchise-Zentralen und Handelsunternehmen.
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