Blockchain: die nächste Evolutionsstufe des Internet

    Die rechtliche Unsicherheit und einige Skandale rund um das elektronische Geld namens Bitcoin haben viele davon abgehalten, sich mit der hinter Bitcoin liegenden Struktur – der Blockchain – zu beschäftigen. Tatsächlich könnten mit diesen neuen Prinzipien zentrale Prozesse der Finanzbranche verbessern werden. Und mehr noch: Märkte könnten generell neu geordnet werden und ein dezentrales, transaktionales Internet zu geschaffen werden. Damit wäre Blockchain die Basis für das Internet der nächsten Generation.

    Blockchain ist viel mehr als nur die IT-Architektur hinter Bitcoin und alles andere als eine Architektur für ein Internet-Zahlungssystem. Blockchain könnte die Grundlagen für ein neues Internet legen, ein Internet der Werte, ein transaktionales Internet. 

    Damit handelt es sich bei Blockchain um mehr als ein Technologie-Thema, sondern ist auch betriebs- und volkswirtschaftlich hochinteressant und bedeutsam. Es sind die neuen Logiken und ihre Auswirkungen auf Geschäftsmodelle, Plattformen und das Arbeitsleben, die Blockchain so wichtig machen. Darum geht es. 

    Ein Déjà-Vu aus den Neunziger Jahren

    Die derzeitigen Missverständnisse rund um Blockchain erinnern mich an die Situation rund um das Internet Mitte der Neunziger Jahre. Damals wohnte ich in einem katholischen Studentenwohnheim und forderte vom Hochschulpfarrer eine eigene Telefonleitung, um ins Internet zu gelangen. Es kam die Frage: „Internet – was ist das?“ und (nach meiner Erklärung) die prompte Antwort: „Das brauchen Sie nicht!“

    Damit war mein Traum fürs erste beendet und ich wurde regelmäßiger Gast im Rechenzentrum der Universität mit direktem Zugang zum Internet-Backbone. Ab da an spielte ich nur noch mit den pickeligen Kindern.

    Genauso ist es heute mit der Blockchain: es gibt einen Kreis der eingeweihten Underdogs und einer staunenden, zögernden Mehrheit der Entscheider. Geschichte wiederholt sich.

    Neben den Basisfragen rund um das Thema Blockchain (die ich in einem kostenlosen Whitepaper behandelt habe) stelle ich mir hier die Frage nach der Bedeutung der Blockchain für digitales Wachstum und neue Wirtschaftsstrukturen. Und vor allem stelle ich mir die Frage: Haben das wirklich alle auf dem Radar?

    Vertrauen in der neuen Proxy-Ökonomie

    Die Zweifel sind begründet, denn damals wie heute haben die meisten das zugrundeliegende Prinzip nicht verstanden, hat sich das Denken noch nicht den neuen Strukturen angepasst. Damals wie heute hat man die Potentiale und den möglichen Paradigmenwechsel ins einer vollen Breite verkannt. 

    Das Neue an Blockchain ist nicht Bitcoin. Das wirklich Neue an der Blockchain ist, dass Sicherheit und Vertrauen in diesem System nicht von zentraler Instanz oder durch einen besonders ausgeklügelte Krypto-Algorithmus, sondern durch ein System an Proxies, die gegenseitig die Transaktionen verifizieren, hergestellt wird.

    Hat das World Wide Web das Internet der Kommunikation geschaffen, könnte Blockchain ein Internet der Transaktion hervorbringen. Blockchain ist eine Vertrauensmaschine, die vertrauensvolle wirtschaftliche Interaktion zwischen Parteien ermöglicht, die sich nicht kennen. Das ist neu. 

    Evolution von geschlossen-zentralistischen zu offen-verteilten Infrastrukturen 

    Und dann immer wieder die Zweifel: “Kann das funktionieren?” Einmal hat es jedenfalls schon funktioniert. Denn wie Blockchain läuft auch das ganze Internet völlig ohne zentrale Steuerung.

    Wie sich die Muster gleichen, ist faszinierend. Für mich ist das ein Déjà-Vu-Erlebnis: wurde ich oft gefragt, was denn das Internet eigentlich sei. Als meine Antwort dann war, es sei einfach ein Kommunikationsprotokoll, welches interaktive Kommunikation über Online-Medien ohne jede zentrale Steuerung herstelle, war die Reaktion meist: Unglauben.

    Was damals in den Neunzigern mit dem Internet passierte, wiederholt sich nun mit der Blockchain. Damals offenbarte sich eine Evolution von der spezialisierenden, zentralisierenden Lösung zur vernetzten Einzellösung. Verteilte, dezentrale Strukturen waren den zentralistischen Strukturen weit überlegen.

    Die zentralistischen Strukturen sind in dem Sinne auch geschlossen, als dass der zentrale Betreiber den Teilnehmern keine Rechenschaft ablegen muss und es in seinem Ermessen liegt, wieweit er die Peers an einer Weiterentwicklung des Kerns beteiligen will.

    Volkswirtschaftlich lässt sich das ganz einfach erklären, denn dafür sind Transaktionskosten verantwortlich, die in verteilten Netzen einfach niedriger sind, als im Falle einer zentralen Steuerung. Ronald Coase hat das Konzept der Transaktionskosten in den vierziger Jahren – freilich ohne Kenntnisse vom Internet – aufgestellt.

    Das Internet war schon immer ein Medium, über das Transaktionen abgewickelt wurden, wurde schon recht früh für Transaktionen genutzt, aber eine systematische Implementierung transaktionaler Regeln fehlte. Ich habe das elektronische Geld 1997 in ‚Die Entstehung von Ordnung im Internet’ als eine Conditio sine qua non des elektronischen Handels beschrieben. Das war vielleicht aus heutiger Sicht etwas überspitzt formuliert, aber umgekehrt verspricht die Blockchain eine volkswirtschaftlich höherwertige Infrastruktur für die Digitalökonomie und damit auch einen höheren Grad volkswirtschaftlicher Vernetzung. Die Wachstums- und Wohlfahrtseffekte sollten nicht unterschätzt werden. Diese zu heben wird eine Aufgabe von Generationen sein. Wir sollten daher die Chance erkennen, die uns die Blockchain bietet. Länder wie die Schweiz setzen bereits auf diese Infrastruktur 2.0.

    Die meisten Menschen sind dermaßen im Hier und Jetzt verwurzelt, dass sie sich nicht vorstellen können, dass wir in nicht zu ferner Zukunft ohne uns wohlvertraute Institutionen wie Banken und Versicherungen leben und arbeiten könnten. Diese Institutionen werden vielleicht nicht verschwinden, aber sie werden ihr Rollenbild stark verändern müssen.

    Um die institutionelle Entwicklung von geschlossenen zu offenen Strukturen besser zu visualisieren, habe ich folgende Matrix entwickelt: 

    Matrix: Evolution von zentral-geschlossenen zu offen-verteilten Strukturen im Bereich der Kommunikation sowie der Transaktion.

    Unser Denken ist noch zentralistisch-linear 

    Nach dem verlorenen Krieg glaubten viele in Deutschland, zentralistische Wirtschaftsstrukturen seien der Lage angemessen. Vierzig Jahre später zeigte sich durch die Abstimmung mit den Füßen, wie wenig wettbewerbsfähig diese Systeme gegenüber den offenen Systemen der westlichen Marktwirtschaft waren. Eine Mauer zu bauen, war keine tragfähige Lösung für das Problem ineffizienter Koordination von Wirtschaftsplänen.

    Auch die ersten Online-Dienste wie Minitel, BTX – später dann MSN, T-Online, CompuServe oder AOL – basierten alle auf zentralistischen Topologien. Anfang bis Mitte der Neunziger Jahre war die vorherrschende Meinung in der Wirtschaft, dass sich diese Dienste durchsetzen würden. Das Internet galt als wenig professionell. Es kam anders.

    Die Entwicklung von geschlossenen hin zu offenen Strukturen war damals alternativlos und es ist heute wieder so. Damals wurden AOL, CompuServe & Co durch das Internet hinweggefegt, morgen werden es vielleicht zentralisierte Vertrauensintermediäre sein. Wird heute noch Uber gefeiert, wird die Plattform vielleicht morgen schon durch die Blockchain ersetzt werden.

    Die Botschaft lautet daher: offene Netzwerke haben sich damals durchgesetzt und sie werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit weder durchsetzen. 

    Wie ich in meiner Matrix gezeigt habe, ist die Evolution der Kommunikationsnetze analog zu sehen wie die Evolution der Transaktionsnetze. AOL wurde durch das offene Internet verdrängt, bzw. ging darin auf, weil die Wachstumschancen bei Offenheit erheblich größer waren. Daher erscheint die Situation rund um die Blockchain den Zeitzeugen der Web-Anfangstage auch als ein Dejà-Vu-

    Neue Wertschöpfung aus der Blockchain

    Das hat Auswirkungen bis hin zu ganz normalen Produkten. Im Jahr 1994 hätte sich auch kaum jemand vorstellen können dass Autos über Internetanschluss verfügen. Wertschöpfung bekommt neue Eigenschaften in dem Sinne, dass Kollaboration zwischen Einzelkomponenten ermöglicht wird ohne das Gesamtsystem zu kennen.

    Wie kann man sich das konkret vorstellen? Ein geradezu naheliegendes Beispiel ist aber auch die Anwendung der Blockchain im Bereich Gesundheit. Patientendaten können anonymisiert und verschlüsselt in die Blockchain geschrieben werden. Dritte Experten können dann auf Basis der freigegebenen Daten einem Arzt weitere Therapieangebote machen, ohne sämtliche persönliche Informationen des Patienten zu kennen. Für die Integration sorgt der leitende Arzt als Case Manager. Am konsequentesten hat dies das Projekt GeneCoin angedacht. Dabei wird eine vollständige persönliche DNA eines Patienten in die Blockchain geschrieben. Gerade bei Krankheiten wie Krebs verspricht man sich viel von auf die individuelle DNA abgestimmte Therapien. Dies ist auch heute schon theoretisch relativ sicher möglich. Die Blockchain würde hier aber wesentlich radikalere Wege ermöglichen. So könnte die DNA einem wesentlich größeren Kreis einfach zugänglich gemacht werden. Im Extremfall würden die Daten veröffentlicht und die Verbindung zu den personenbezogenen Daten läge beim leitenden Arut als Vertrauensmann des Patienten.

    Ähnliche Szenarien sind auch mit den Daten, die ein Auto oder die intelligente Industriemaschinen produzieren möglich. Die Blockchain könnte damit auch die Vertrauensproblematik beim Datenaustausch zwischen Industrieunternehmen lösen – bislang ein Hemmschuh für das Thema Industrie 4.0.

    Das heutige Internet beschränkt das digitale Wachstum

    Heute leben wir mit einem im Verhältnis zu seiner wirtschaftlichen Bedeutung im Grunde unterentwickelten Internet. In diesem Internet des Jahres 2016 hat sich zwar die Offenheit der Kommunikation durchgesetzt, aber besteht weiterhin die Geschlossenheit in der Transaktion. 

    Und dabei geht es um weit mehr als nur um einen Ersatz für geschlossene Zahlungssysteme oder staatlich reguliertes Geld. Ein offenes Internet der Transaktion bedeutet etwa auch, dass sich Dienste wie Uber oder AirBnb öffnen und dezentralisieren lassen.

    Die Blockchain kennt keinen Intermediär, keine Monopolbildung. Was sich für uns heute wie das Dunkel der Nichtnachvollziehbarkeit anfühlt, bedeutet dennoch nicht, dass sich die Strukturen nur in einer Halbweltökonomie entwickeln. Das Paradoxe und Neue: in der Blockchain-Ökonomie findet Identifizierbarkeit und Vertrauen in der Unerkennbarkeit statt.

    Blockchain ist also viel mehr. Blockchain ist eine Overlay-Struktur um das heutige Internet und wird das Netz insgesamt auf eine neue Evolutionsstufe, nämlich die des intermediären Internets, heben.

    Es sind die Grenzen des Wachstums, die uns das heutige, rein auf Kommunikationsstrukturen aufbauende Internet setzt, die das System unter Veränderungsdruck setzen. Zwar gibt es etwa im Bereich der Zahlsysteme zahlreiche neue, zentrale Innovationen, wie etwa Apple Pay, aber auch diese bieten sich nicht für alle Optionen als gangbarer Weg. Blockchain erhöht ganz allgemein der Möglichkeitsraum für neue Lösungen und wird daher gesamtwirtschaftlich auch für ein höheres Wohlfahrtspotential sorgen.

    Digitalisierung neu denken

    Der Entscheider dürfte ob dieser weiteren Veränderung zunehmend ratlos werden und sich die Frage stellen: wie balanciere die Transformation richtig aus – wo setze ich die Schwerpunkte ohne mich zu verzetteln?

    Hier ist die Antwort ganz klar: Blockchain wird eine zweite Welle der Digitalisierung auslösen. Die Unternehmen müssen sich auf eine weitere Runde der Transformation einstellen.

    Im Hinblick auf die disruptiven Metafähigkeiten sind Innovationen mit ein bisschen Augmented Reality etc. nur Partialtechnologien. Sie werden natürlich neue Geschäftsfelder eröffnen und herkömmliche Produkte erheblich verändern. Die auf Basis der Blockchain basierenden Querschnittstechnologien haben dagegen die Fähigkeiten, allgemeine Marktstrukturen völlig zu verändern.

    Jeder Unternehmer und jede verantwortliche Führungskraft sollte daher heute ebenso aufmerksam die Innovationen aus der Blockchain verfolgen. Die Berücksichtigung von Blockchain in der digitalen Ausrichtung beeinflusst direkt die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens über die nächsten Jahre hinaus. Digitale Strategien, die auch Plattformen ins Visier genommen haben, sollten in einer mittelfristigen Perspektive auch an die Möglichkeiten der Blockchain angepasst werden. Eine Reaktion auf Uber & Co. Reicht nicht mehr. Der Wandel dahin fängt heute an.

    Dieser Artikel erschien am 19. Juli 2016 auf LinkedIn Pulse.

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    Thomas Vehmeier

    Thomas Vehmeier ist Diplom-Volkswirt, Digital-Stratege und Plattformökonom. Online bereits seit 1993, berät er heute Konzerne und mittelständische Unternehmen bei ihrer Internet-Strategie und unterstützt im Interim-Management – zuletzt im ThinkTank des Telekom-CEO, zuvor vor allem für Franchise-Zentralen und Handelsunternehmen.
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