Einmal No-Code und zurück – wohin sich die Entwicklung digitaler Produkte gerade bewegt

Einmal No-Code und zurück – wohin sich die Entwicklung digitaler Produkte gerade bewegt

Vor ein paar Jahren galt No-Code als die große Befreiung. Plötzlich konnten auch Fachabteilungen und Gründer:innen ohne technisches Know-how eigene Tools, MVPs und Webseiten bauen. Es war eine Zeit des Aufbruchs: Ideen wurden nicht mehr totgeplant, sondern direkt umgesetzt. Schnell, pragmatisch, visuell. No-Code-Plattformen wie Webflow, Bubble oder Glide versprachen nichts Geringeres als die Demokratisierung der Softwareentwicklung – und sie hielten Wort, zumindest im Rahmen ihrer Möglichkeiten.

Parallel dazu etablierte sich Low-Code in der Unternehmenswelt. Hier ging es weniger um kreative Freiheit als um strukturiertes Bauen mit Effizienzgewinn. PowerApps, Outsystems oder Retool wurden zu Enablern für IT-nahe Teams. Die Schnittstelle zwischen Business und Development begann, sich neu zu formieren.

Doch dann kam KI. Und verschob die Spielfelder erneut. Was einst als radikale Vereinfachung gefeiert wurde, wirkt heute fast handgemacht. Denn generative KI ist drauf und dran, die nächste Stufe zu zünden.

Von No-Code zu Vibe Coding – wenn Software aus Sprache entsteht

KI-gestützte Entwicklung hat No- und Low-Code längst überholt. Tools wie GPT-4o, Devin oder Uizard generieren aus einem simplen Prompt vollständige Designs, Applikationslogik und sogar funktionsfähigen Code. Dieses Prinzip wurde Anfang 2025 von Andrej Karpathy unter dem Begriff Vibe Coding beschrieben: Man formuliert das Ziel oder die gewünschte Stimmung, und ein LLM liefert direkt lauffähige Softwarevorschläge mit dem passenden „Vibe“ – oft überraschend gut, selten wartungsfreundlich.

Was früher Prototyping war, ist heute roboterhafte Codegenerierung in Echtzeit – Roboter-Coding im besten Sinne. Die KI denkt Design, Funktion und User Flow gleich mit. Das beschleunigt die Entwicklung enorm. Aber es wirft neue Fragen auf: Wer prüft die Qualität? Wer versteht den erzeugten Code? Und wer übernimmt Verantwortung, wenn’s knallt?

Speed kills – wenn wir zu schnell für uns selbst werden

Wir erleben eine paradoxe Entwicklung: Noch nie war es so einfach, Software zu bauen – und gleichzeitig so riskant. Denn Geschwindigkeit ist nicht gleich Qualität. Der Code, den KI heute schreibt, ist oft nicht dokumentiert, nicht getestet, nicht wartbar. Was in der ersten Version funktioniert, kann in der zweiten zur Zeitbombe werden.

Hinzu kommt: Mit der neuen Leichtigkeit geht Verantwortung verloren. Wer fühlt sich zuständig für Architektur, Security, Skalierbarkeit? Vieles bleibt im Ungefähren – auch weil es gerade so schön schnell geht. Die größte Gefahr liegt daher nicht im schlechten Code, sondern im fehlenden Bewusstsein. Wenn wir uns von der Illusion verführen lassen, dass Technologie alles für uns übernimmt, verlieren wir genau das, was gute digitale Produkte eigentlich auszeichnet: Klarheit, Ownership und Qualität.

Begriffe im Überblick – Definitionen und Herkunft

Vibe Coding
Vibe Coding bezeichnet eine AI-gestützte Programmierweise, bei der man das gewünschte Ergebnis in natürlicher Sprache beschreibt und ein LLM (Large Language Model) den Code generiert – oft inklusive Tonalität, Designidee und implizierter User Experience. Geprägt wurde der Begriff Anfang 2025 von Andrej Karpathy, dem ehemaligen Leiter für AI bei Tesla und Mitbegründer von OpenAI. Besonders geeignet ist Vibe Coding für Prototypen, Wegwerfprojekte oder kreative Codierungs-Experimente – weniger für skalierbare Softwareprodukte.

Low-Code
Low-Code bezeichnet Entwicklungsplattformen, die visuelle Modellierung mit der Möglichkeit kombinieren, bei Bedarf gezielt zu programmieren. Sie richten sich vor allem an Entwickler:innen und technische Power-User. Der Begriff wurde erstmals 2014 von Forrester Research verwendet und beschreibt eine Mischform aus Konfiguration, visueller Logik und Custom Code.

No-Code
No-Code-Plattformen ermöglichen die komplette Erstellung digitaler Produkte, ohne eine einzige Zeile Code schreiben zu müssen. Der Fokus liegt auf visueller Entwicklung, Konfiguration und Templates. Das Segment etablierte sich ab den 2010er-Jahren, mit Fokus auf Empowerment von Business-Usern und Citizen Developers.

Vergleich der Ansätze

Begriff Einstiegsebene Technik Zielgruppe Ursprung / Jahr
No-Code Visuelle Oberfläche Drag-and-Drop, Konfiguration Business-User, Citizen Devs 2010er
Low-Code Hybrid GUI mit optionalem Code Entwickler:innen, Power-User 2014 (Forrester Research)
Vibe Coding Prompt-to-Code LLM-generierter Code Entwickler:innen, Kreative 2025 (Andrej Karpathy)

Wohin führt dieser Weg?

Vier Entwicklungslinien zeichnen sich ab – nicht als Entweder-oder, sondern als komplementäre Perspektiven. Erstens: Der Weg führt nicht von No-Code zu mehr Bequemlichkeit, sondern zu mehr Kompetenz. Know-Code ist das, was heute wirklich zählt – also das Verstehen dessen, was man erzeugt. Wer Verantwortung übernehmen will, muss nicht alles selbst schreiben können, aber die Strukturen und Konsequenzen durchdringen.

Zweitens: Prompt Engineering wird zur Schlüsselkompetenz in der Produktentwicklung. Wer mit KI arbeitet, muss nicht nur wissen, was er will, sondern wie man es formuliert. Der Prompt wird zum neuen Interface – halb Strategie, halb technische Abstraktion. Drittens: Interfaces lösen sich zunehmend auf. Agenten übernehmen Aufgaben, Workflows laufen im Hintergrund. Der Mensch beschreibt Ziele – die Ausführung übernimmt Software, die eigenständig priorisiert, anpasst und lernt.

Und viertens: Entwicklung wird zur Co-Kreation. Vibe Coding bringt Design, Tonalität und Logik direkt in den Entstehungsprozess. Die klassische Trennung zwischen UX, Code und Strategie beginnt zu verschwimmen.

Fazit: Zurück heißt nicht Rückschritt – sondern Reife

Wir sind einmal No-Code gegangen – und kommen jetzt zurück mit neuen Erkenntnissen. Zurück nicht im Sinne von Rückschritt, sondern als neue Phase mit mehr Klarheit. Wir haben erlebt, was Baukästen leisten können – und was nicht. Wir sehen, wie KI Entwicklung beschleunigt – aber auch, wie wichtig Architektur, Verantwortung und Nachvollziehbarkeit bleiben.

Die Zukunft gehört nicht der schnellsten Lösung. Sie gehört der robustesten – und der, die langfristig getragen wird. Gute digitale Produkte entstehen nicht automatisch. Sie brauchen Haltung, Übersicht und ein tiefes Verständnis für das, was unter der Oberfläche passiert. Vielleicht sind wir also gar nicht zurück. Vielleicht sind wir zum ersten Mal wirklich angekommen.

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