Deep Value – Vorsprung durch gemeinsame Wertschöpfung

    In Zeiten personalisierter, jederzeit verfügbarer digitaler Services, wird es immer schwieriger, nachhaltigen Kundenwert zu erzeugen, der zur Festigung der Kundenbeziehung beiträgt. Absatzgetriebenes, kurzfristiges Vertriebsdenken führt zunehmend ins Leere. Im Zuge von Digitalisierung und Automatisierung benötigen Unternehmen neue Differenzierungsstrategien, um sich im digitalen Wettbewerb zu positionieren.

    Nicht ohne Grund werden immer mehr kundennahe Prozesse agil abgebildet, was nichts anderes bedeutet, als dass die Pläne des Unternehmens ständig und wiederholend mit den Kundenbedürfnissen abgestimmt werden. Entscheidend ist hier, wieviel Empathie Unternehmen aufbringen, um das ideale Kundenerlebnis zu kreieren. Die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen wird in Zukunft dadurch bestimmt, inwiefern sie hier neue Wege finden, dieses Kundenerlebnis, also den vom Kunden erlebten Nutzen, ständig zu verbessern und zu verfeinern.

    In Abgrenzung zum klassischen Begriff des Customer Values, habe ich deshalb den Begriff des Deep Value vorgeschlagen, um das Ziel einer neuen Kreation von mehrdimensionalen, individuellen Nutzens zu verdeutlichen.

    Entscheidende Voraussetzung dieser tiefen Wertschöpfung ist die Beteiligung beider Marktseiten. Anders als im klassischen ökonomischen Denken findet keine Markträumung, kein Ausgleich von Angebot und Nachfrage, statt, sondern Wert entwickelt sich aus der Kollaboration selbst.

    Die Ausgangsthese lautet, dass ohne wechselseitige Rückkopplung nicht das volle Potential der Beziehung zwischen Unternehmen und Kunde und damit der gemeinsamen Wertschöpfung ausgenutzt werden kann. Das steht natürlich im Widerspruch zum klassischen Marketingdenken, welches immer nur den Unternehmer in die Pflicht nimmt.

    Ich werde in folgendem zeigen, wie Unternehmen und Kunden in Zukunft gemeinsam tiefe Wertschöpfung möglich machen können. Grundsätzlich lassen sich vier Bedingungen von tiefer Wertschöpfung erklären:

    Erste Bedingung – Lernender Prozess

    Wie könne wir die unbekannten Dimensionen von Customer Value entwickeln? Der dem Konzept von Deep Value zugrundeliegende Prozess ermöglicht gemeinsames Lernen. Dies ist nur bei einer Öffnung der Unternehmensgrenzen nach außen möglich. Wertschöpfung gestaltet sich nicht in einer Kette (Push), sondern in einem Netzwerk (Pull) weiterer Beziehungen. Der dominante Prozess von Wertschöpfung ist optimierendes Lernen als Annäherung an eine unbekannte Funktion.

    Unternehmen müssen also über Schnittstellen und Lernalgorithmen für Netzstrukturen verfügen. Diese Lernalgorithmen arbeiten an hidden layers zwischen Eingabeschicht und Ausgabeschicht zu entdecken (künstliches neuronales Netz).

    Gleichzeitig müssen sie es ermöglichen, dass die Daten und die Hidden Layers auch gleichermaßen von Dritten genutzt werden können, die sich auf den gemeinsamen Lernprozess festlegen und daran teilhaben möchten.

    Zweite Bedingung – Integrierter Dialog

    Neue Innovationsmethoden wie Design Thinking, Jobs-to-be-done etc. versuchen, die Empathie- und Dialogfähigkeit des Unternehmens zu verbessern, um weitere Dimensionen des Ökosystems Mensch zu erschließen.

    Der Impuls für Wertschöpfung geht vom Kunden aus. Der Kunde äußert sich aufgrund der technischen Möglichkeiten jedoch zunehmend impulsiv. Die Zusammenhänge von Wertschöpfung sind zunächst weder Unternehmen noch Kunde bekannt. Sie erfahren sich erst im Dialog.
    Die Zusammenhänge von Wertschöpfung sind zunächst weder Unternehmen noch Kunde bekannt. Sie erfahren sich erst im Dialog.

    Neben diesen testbasierten Methoden, die an Laborsituationen erinnern, bestehen jedoch mittlerweile technische Möglichkeiten, permanent Nutzungsdaten und Feedbacks des Kunden in Echtzeit aus dem tatsächlichen Nutzenvorgang zu erhalten. Zukünftig dürfen Dialog und Produkt nicht getrennt sein. Die Lernalgorithmen müssen in den Produkten integriert werden.

    Dialogfähigkeit und Lernen muss Teil des Service-Erlebnisses sein. Wenn es möglich ist, auf empathischer Ebene immer mehr Informationen zu sammeln und auszuwerten, warum nutzen wir das nicht, um unsere Beziehung zum Kunden auf Dauer zu verbessern und zu vertiefen?

    Dritte Bedingung – Vertrauensvolle Beziehung

    Wertschöpfung geschieht nur in einer Beziehung, die den vertrauensvollen Dialog erst ermöglicht. Entscheidend ist die Tiefe des gegenseitigen Verständnisses – und zwar auf beiden Seiten: zum einen über die Bedürfnisse des Kunden und zum anderen über die Machbarkeiten.

    Die dem Konzept von Deep Value zugrundeliegende Beziehung ist also immer beidseitig. Beide Seiten sollen in dieser Beziehung wachsen können. Das bedeutet eine Abkehr vom einseitigen Blick auf Kundenorientierung, in der der Kunde soll nicht nur bedient und nicht weiterentwickelt werden soll. Das Unternehmer ist also nicht mehr nur Erfüllungsgehilfe des Kundenbedarfs, sondern aktiver Sparring Partner. Auf der anderen Seite ist der Kunde nicht mehr nur Abnehmer einer Leistung, sondern muss sich aktiv in den gemeinsamen Wachstumsprozess einbringen.

    Im Gegenteil besteht in dieser Vorstellung eine wechselseitige Verantwortung. Der Kunde sollte innerhalb der ko-kreativen Arbeit einen Wachstumsprozess durchleben können, in dessen Zentrum Lernen steht. Der Kunde muss dafür aber auch bereit sein, mehr preiszugeben und sich selbst nicht mehr nur als Leistungsempfänger zu sehen. Er hat damit also eine Mitverantwortung für die

    Wertschöpfung ermöglichende Beziehung und bestimmt durch seine Haltung und sein Verhalten, inwiefern diese bedeutungsvoll für ihn werden kann.

    Nur in der empathischen Beziehung und das Teilen von Erlebnissen, die auch ehrlich als Partnerschaft (und damit auf Dauer) angelegt ist, können sich Unternehmen und Kunden nähern.

    Vierte Bedingung – Gemeinsame Kontrolle

    Es muss Klarheit darüber herrschen, wem das im gemeinsamen Lernprozess gewonnene Wissen gehört? Droht dem Nutzer beim Verlassen der Beziehung zum Unternehmen, den Zugang zu den gemeinsam gewonnenen Erkenntnissen während der gemeinsamen Journey zu verlieren, so wird er von Anfang an vorsichtiger sein. Das volle Potential an Co-Creation kann so nicht realisiert werden.
    Die Unternehmen tun gut daran, dem Kunden Zugangs- und Kontrollmöglichkeiten zu seinen Daten zu ermöglichen. Das kann etwa die Exportmöglichkeit einer Playlist oder anderer Daten sein. Wenn der Kunde, die über seine persönliche Customer Journey gesammelten Daten nicht einsehen kann, beschädigt das unmittelbar die Vertrauensebene.

    Der Aspekt der gemeinsamen Kontrolle kann noch etwas weiter gedacht werden. Grundlegende Funktionen und Transaktionen oder andere Werte der Kollaboration können von Beginn an durch institutionelle Regeln vor zentraler Kontrolle und der Möglichkeit des Missbrauchs geschützt werden. Hier bieten die Distributed-Ledgers-Technologien (Blockchain) neue Möglichkeiten, Werte vor unbefugter Nutzung zu schützen (wie das sogar im Falle höchst kritischer Daten funktionieren könnte habe ich hier dargelegt). Andere Formen sind machtvolle Kundenbeiräte oder genossenschaftsähnliche Entscheidungsprozesse.

    Unternehmen müssen festlegen, über welche Teile sie Kontrolle abgeben und mit Nutzern teilen wollen. An dieser Stelle zeigt sich oft die Wahrheit – wie sehr ist das Unternehmen von seiner Kultur bereit, Macht mit Partnern zu teilen. Der Grad der Kontrolle über Prozesse und Daten verlangt eine intensive kulturelle Auseinandersetzung und verändert das Unternehmen auch im Innern. Die Frage ist außerordentlich strategisch, denn geteilte Kontrolle bedeutet auch immer, dass sich das Unternehmen in diesen Feldern nicht mehr vollständig eigenständig bewegen kann. In der Regel beginnt der Prozess des Teilens von Kontrolle mäßig mit erweiterten Kundenrechten zum Lesen, Löschen und Weiterverwenden von Daten und intensiviert sich im Zeitverlauf.

    Fazit

    Das Konzept von Deep Value und seiner drei Grundbedingungen zeigen, dass eine einseitige Kundenorientierung heute nicht mehr ausreicht. Gefordert ist ein tieferes Verständnis für Kundennutzen und ein Arsenal an Instrumenten, um dieses Verständnis in einem ständigen Kundendialog immer wieder zu verfeinern. Unternehmen, die Differenzierungsstrategien verfolgen, müssen also darin gut sein, ständig neuen Perspektiven auf den Customer Value aus der Sicht des einzelnen Kundens zu entdecken und dazu passende neue Lösungen zu erschließen.

    Der Ansatz des Deep Value optimiert den Customer Value, indem er in der Leistungs-Dimension (von Güterversorgung zu integrierten, ko-kreativen Services) wie auch in der Prozess-Dimension (von Pipelines zu Plattformen) ein mehr an Individualität, Interaktion und Innovationsfähigkeit ermöglicht (4i von Heribert Meffert).

    Deep Value ist möglicherweise kein dominanter Wertschöpfungsansatz für austauschbare Standardgüter wie etwa Reis oder Zahnstocher, hier dominieren die klassischen des Marketings und sie tun meist einen guten Dienst. Aber auch diese Fälle lassen sich im Modell unterbringen und darstellen.

    Quellen:

    [1] Hayek, Friedrich (1969): Wirtschaft, Wissenschhaft und Politik. Antrittsvorlesung am 18. Juni 1962 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburger Studien, Tübingen, S. 11
    [2] Vehmeier, Thomas (1997): Unwissen und Freiheit in der digitalen Gesellschaft, http://www.interneteconomics.de/unwissen-und-freiheit-in-der-digitalen-gesellschaft/
    [3] Bouillon, Hardy (1991): Ordnung, Evolution und Erkenntnis. Hayek Sozialphilosophie und ihre erkenntnistheoretische Grundlage, S. 92.
    [4] B. Joseph Pine, James Gilmore (1998): Welcome to the Experience Economy, in: Harvard Business Review..
    [5] Vehmeier, Thomas (2015), Das transhumane Internet: länger leben mit CRISPR und Blockchain?, https://www.vehmeier.com/das-transhumane-internet-laenger-leben-mit-crispr-und-blockchain/

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    Ihr

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    Thomas Vehmeier

    Thomas Vehmeier ist Diplom-Volkswirt, Digital-Stratege und Plattformökonom. Online bereits seit 1993, berät er heute Konzerne und mittelständische Unternehmen bei ihrer Internet-Strategie und unterstützt im Interim-Management – zuletzt im ThinkTank des Telekom-CEO, zuvor vor allem für Franchise-Zentralen und Handelsunternehmen.
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